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Die Frau, die ihren Mann auf dem Flohmarkt verkaufte: Oder wie ich zum Erzähler wurde (German Edition)

Die Frau, die ihren Mann auf dem Flohmarkt verkaufte: Oder wie ich zum Erzähler wurde (German Edition)

Titel: Die Frau, die ihren Mann auf dem Flohmarkt verkaufte: Oder wie ich zum Erzähler wurde (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rafik Schami
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viele Jahrtausende überstanden hat, ist eine ungeheure Leistung. Es lassen sich uralte Volksmärchen aus allen Kontinenten neben Kunstmärchen der alten wie der neuen Zeit entdecken. Geschichten, die Kleopatra, Sokrates oder Jesus als Kinder hörten, stehen neben Märchen und phantastischen Geschichten der Moderne, die noch unsere Enkelkinder erfreuen und ihnen hin und wieder eine Gänsehaut verpassen werden.
    Ist es nicht seltsam, dass Kinder ohne weiteres Zugang zu den Märchen finden? Ist es nicht seltsam, dass Kinder meine Märchen bei meinen ersten Auftritten in diesem Land vor dreißig Jahren auf Anhieb verstanden? Manche Erwachsene dagegen brauchten etwas länger …
    Das war aber nicht immer so. Märchen wurden früherfür Erwachsene erzählt und von ihnen verstanden. Der Märchenerzähler wurde verehrt als eine wandelnde Bibliothek, gefüllt mit den Weisheiten der Völker. Warum also schlägt die Brücke heutzutage immer schwerer den Weg zu den Erwachsenen? Ich glaube, weil unsere Zeit – so sehr sie auf der einen Seite das Kind verhätschelt – immer mehr bemüht ist, aus Kindern so schnell wie möglich Erwachsene zu machen, in deren Herzen das Kindliche kein Asyl mehr findet.
     
WAS VERLIEREN WIR BEIM GANG DURCH DAS TOR IN DIE WELT DER ERWACHSENEN?
    Die Antwort ist sehr kompliziert, aber ich versuche es so kurz wie möglich zu machen und nehme eine Ungenauigkeit in Kauf. Wir verlieren beim Gang durch das Tor zum Erwachsensein die Fähigkeit, uns zu wundern. Wir werden immer unfähiger, über Wunder in ihren alltäglichen Erscheinungen zu staunen. Wir lernen immer mehr, zu sehen, und weniger, zuzuhören, und das betrifft Männer weit mehr als Frauen.
    Was sind das für glückliche Menschen, die bei diesem Durchgang Kinder bleiben.
    Für die anderen Erwachsenen sind Märchen ins Unglaubliche übertriebene Geschichten, die höchstens Kindern etwas vorgaukeln. Und bis in die Gegenwart hinein erheben sich gelegentlich noch Stimmen, die behaupten, Märchen könnten schlecht sein für Kinder. Auch die Frage, ob Kinder überhaupt Märchen brauchen, taucht immer wieder auf. Der Psychologe Bruno Bettelheim hat darauf in seinem Buch »Kinder brauchen Märchen« mit Ja geantwortet.
    Dass Kinder Märchen brauchen und lieben, wussten Eltern,Großeltern und am besten die Kinder selbst schon immer.
    Wer aber Märchen ganz dringend braucht, sind die Erwachsenen. Für sie sehe ich eine große Chance, damit wieder Kind zu werden.
    Wer Märchen liebt, sollte sich nicht lustig machen über Erwachsene, die das Tor zur Märchenwelt nicht finden. Vielmehr sollte er ihnen respektvoll die Angst nehmen, denn es ist die Angst, die ihnen den Blick versperrt. Wenn Sie einem Erwachsenen die Angst vor Märchen nehmen wollen, so sagen Sie ihm, dass nicht nur große Denker wie Bloch, Einstein, Fromm, Goethe, Balzac, Tolstoi, Gorki, Lagerlöf, Wilde u.a. Märchen geschätzt haben, sondern bereits Leonardo da Vinci, der sogar selbst eine Menge Fabeln und Wunderwesen erfunden hat.
    Die Neugier und die Fähigkeit, sich zu wundern, lässt die Kinder den Ort und sich vergessen und über jene Zauberbrücke in die Geschichte gehen. Ein Erwachsener, der, statt das Unsichtbare zu hören, das Messbare überprüft, der, statt sich in die Welt der Märchen einzufühlen, Mauern um sich baut, deren Steine aus Angst gemeißelt sind, deren Mörtel mit Überheblichkeit geknetet wurde, wird niemals den Genuss spüren, auf dieser Brücke zu gehen.
    Die Weisheit der Märchen belohnt nur Suchende, aber derer nicht alle. Wer nach dem »Was bringt mir das?« sucht, wird die Märchen mit leeren Händen verlassen. Nur die arglos nach Weisheit, Freude, fernen und nahen Welten Suchenden werden reichlich belohnt. Um mit Erich Fromm zu sprechen: Diejenigen, die das Haben suchen, gehen leer aus; belohnt werden diejenigen, die das Sein suchen.
    Ein Erwachsener muss noch einmal zur Unschuld seiner Kindheit zurückkehren und mit den Augen und Ohren eines Kindes verwundert die Welt neu entdecken. Das wusste schon Jesus, von dem der Spruch überliefert ist: »Lasst die Kinder zu mir kommen, hindert sie nicht, denn so wie diese ist das Königreich Gottes. Wahrlich ich sage euch: Wer das Reich Gottes nicht annimmt wie ein Kind, wird nicht in dieses eintreten.«
     
    VON TAUSENDUNDEINER BRÜCKE
    Ich fand sehr früh Zugang zur Märchenwelt. In Damaskus verging kein Tag ohne Geschichten. Die arabische Kultur ist sehr wortbetont, daher ist diese Kultur im Zeitalter der

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