Die Frau, die ihren Mann auf dem Flohmarkt verkaufte: Oder wie ich zum Erzähler wurde (German Edition)
einer Chilenin und ein Südafrikaner zu einem Amerikaner findet. Das ist meines Erachtens die größte Leistung des Märchens. Ein Romancier, ein moderner Lyriker oder ein Theaterautor kann davon nur träumen.
Wir können nicht alle Eigenschaften besprechen, die im Wesen des Märchens stecken und ihm zu dieser unvorstellbaren Kraft verhelfen. Aber ein paar Betrachtungen als Würdigung können von Nutzen sein.
FLACHHEIT DER FIGUREN
Freunde wie Gegner des Märchens sind sich trotz unterschiedlicher Wertungen einig: Märchen arbeiten mit Reduktion. Deshalb werden sie überall verstanden. Gemeint ist: Die Helden sind zweidimensional. Sie haben keine psychologische Tiefe. Sie halten selten einen inneren Monolog, man weiß nur wenig über ihre Seele. Sie reagieren kaum auf Schmerzen, auch wenn Blut fließt.
Wer die Einfachheit der Darstellung, die Eindeutigkeit der Charakterisierung der handelnden Personen für naiv hält, hat nichts oder nur wenig von der Bedingung des mündlichen Erzählens begriffen. Man übersieht die Voraussetzung der mündlichen Erzählkunst, nämlich den roten Faden der Geschichte so konzentriert wie nur möglich zu erzählen und sich nicht in der Tiefe oder in inneren Monologen zu verlieren, die als Lesestoff von größter Wichtigkeit sein können, aber fürs Hören ungeeignet sind.
Als Kind des mündlichen Erzählens muss das Märchen also auf lange innere Monologe und spezielle Erklärungen der Helden, die kein Zuhörer verfolgen, geschweige denn behalten kann, verzichten. Ich habe das Märchenerzählen mit dem Weben eines Teppichs verglichen und das moderne Erzählen (Romane, Kurzgeschichten, Theater) mit der Bildhauerei, die räumliche Figuren herstellt, die man von allen Seiten betrachten kann. Das sind zwei vollkommen verschiedene Künste.
Die erwähnte Zweidimensionalität wurde von manchen Kritikern als Schwäche des Märchens gegenüber dem Roman mit dessen Tiefen und Untiefen bezeichnet. Das Gegenteil ist richtig. Sie ist ein Element der Stärke. Und das ist eines der Geheimnisse des Märchens.
Die Zuhörer/Leser ergänzen die Flachheit einer Person der erzählten Geschichte nämlich mit einer dritten Dimension der Seele/Psyche aus dem eigenen Reservoir an Erfahrung und bauen diese Tiefe im Verlauf der Erzählung aus. Damit beteiligen sie sich an der Gestaltung des Märchens und machen es zu ihrem eigenen.
Durch die Zweidimensionalität bietet das Märchen also eine Chance der Aneignung. Und das ist nichts anderes als ein Brückenbau. Das Märchen gibt keine Ausgestaltung der Psyche einer handelnden Person vor, mit der viele Völker nichts anfangen können. Auch innerhalb einer Sprache werden Leser abgestoßen, wenn sie das behandelte Thema (der Kern der Geschichte) nicht interessiert. Und das ist umso wahrscheinlicher, je spezifischer das Thema ist. Eine übertriebene Nabelbetrachtung lässt viele Leser einen Roman sehr schnell zur Seite legen und nach einer für sie und ihr Leben interessanteren Lektüre suchen. Dies geschieht unabhängig davon, wie wichtig die Nabelbetrachtung für den Autor selbst wäre.
Das Leben ist viel zu kostbar, um es mit Langeweile zu vergeuden. Jedes Kind weiß, dass die Welt voll von spannenden Geschichten ist. Ich habe beobachtet, wie Kinder alles bar bezahlen, ihr Eis und ihre Sympathie und Apathie. Ich lernte also sehr früh, mir beim Erzählen alles zu erlauben, nur nicht die Kinder zu langweilen, denn sie würdennicht wie die Erwachsenen mit geschlossenem Mund gähnen und Gott bitten, diesen Kelch der Langeweile an ihnen vorübergehen zu lassen, sondern einfach protestieren und dem Erzähler deutlich zeigen, dass er sie langweilt. Ich habe mir also angewöhnt, alle meine Zuhörerinnen und Zuhörer als Kinder zu betrachten, und so habe ich großen Respekt vor ihnen.
DIE UNMESSBARE DIMENSION
Die Gegner des Märchens nehmen es ihm übel, dass es unrealistisch ist, nicht selten auf die Wirklichkeit pfeift und seine phantastischen Höhenfluge vollführt, als würde man noch keine Physik kennen. All das zählt für sie zu den großen Schwächen des Märchens. Während sich also die realistische Literatur dauernd bemüht, glaubwürdig zu erscheinen, erlaubt sich das Märchen wie ein ungezogenes Kind darauf zu verzichten, ja auch noch lauthals stolz darauf zu sein.
Märchen abzustempeln, weil sie unwahr sind, grenzt an Ignoranz, als ob sich Literatur jemals der Wahrheit verpflichtet hätte. »Die Wahrheit und nichts als die Wahrheit wollen
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