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Die Frau, die ihren Mann auf dem Flohmarkt verkaufte: Oder wie ich zum Erzähler wurde (German Edition)

Die Frau, die ihren Mann auf dem Flohmarkt verkaufte: Oder wie ich zum Erzähler wurde (German Edition)

Titel: Die Frau, die ihren Mann auf dem Flohmarkt verkaufte: Oder wie ich zum Erzähler wurde (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rafik Schami
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nur Richter hören«, sagt einer der Helden meiner Geschichten. Anders, noch härter gesagt: Immer wenn die Literatur behauptete, die Wahrheit und nichts als die Wahrheit zu verbreiten, rollte das vernichtende Unheil bereits hinter ihr her.
    Um zu zeigen, warum diese Eigenschaft des »Unrealistischen« eher eine Stärke ist, muss ich zum großen Meister Aristoteles zurückgehen.
    Er ist – nach unseren heutigen Kenntnissen – der erste große Lehrer der Poetik. Von ihm haben wir einiges über die Mimesis gelernt, die Nachahmung des Lebens, der Wirklichkeit,wodurch Literatur und Kunst entstehen. Die Kunst sollte die Wirklichkeit gezerrt (etwa satirisch) oder getreu (naturalistisch oder realistisch) widerspiegeln. Doch beim Märchen scheint dieser Anspruch zu scheitern. Märchen ahmen niemals die Wirklichkeit nach, sonst wären sie Geschichten und keine Märchen. Ich meine das nicht politisch, wie etwa in der modernen emanzipierten Frauenliteratur oder im sozialistischen Realismus, die politische und gesellschaftliche Gegenbilder entwarfen – ich meine es wörtlich: Märchen nehmen weder Raum (wie etwa die Insel der Utopisten, auf der alles harmonisch abläuft) noch Zeit (etwa in früheren oder zukünftigen Zeiten, wo alles wunderbar läuft) als Fluchtmöglichkeit, um eine Harmonie zu realisieren. Märchen nehmen unsere mühsam errungenen klaren Definitionen von Raum und Zeit nicht einmal zur Kenntnis. Die Welt des Märchens befreit sich und die Zuhörer von all diesen roten Linien und Grenzen. Sie mischt Vergangenes mit Gegenwärtigem und Zukünftigem. Ihre Helden altern nicht, solange das Märchen es nicht braucht. Die Helden tafeln an Tischen wie den unseren, aber es stört sie nicht, dass ein Ahne oder Geist, Engel oder Teufel mit am Tisch sitzt.
    Sie sind trotzdem Kunstwerke von atemberaubender Schönheit. Sollte man also das mimetische Modell von Aristoteles zum alten Eisen werfen? Meine Antwort lautet: Nein, wir müssen nur die Auffassung von der Wirklichkeit vom starren Beharren auf die nur messbaren Elemente der Wirklichkeit befreien. Traum, Wunsch, Angst und Hoffnung sind unmessbare Elemente der Wirklichkeit und sie beeinflussen diese mehr als alles Messbare. Und gerade diese Elemente machen die Märchen so unsterblich und grenzenlos.
    Und so wie Einstein die Zeit als vierte Dimension eingeführt hat, um der Natur näher zu kommen, so würde auch die »Dimension des Nichtmessbaren« als Prinzip der Kunst selbige noch präziser machen. Diese Dimension erfüllt genau die Sehnsucht des Menschen in allen Kulturen nach dem Wunderbaren, nicht nur als Flucht aus dem grauen bis grausamen Alltag, sondern als Möglichkeit, die Wirklichkeit zu vertiefen.
     
MÄRCHEN SIND MANCHMAL EINE ZUGBRÜCKE, SCHWER EINZUNEHMEN, BEWEGLICH UND VOLLER ÜBERRASCHUNGEN
    Carl Gustav Jung versuchte die Verbreitung des Märchens und seine hervorragende Eignung als Brücke für alle Menschen unabhängig von ihrer kulturellen Herkunft mit dem Unbewussten zu erklären. Er ging davon aus, dass es so etwas wie ein kollektives Unbewusstes mit Archetypen gibt, das ein gemeinsames Grundmuster in der Psyche aller Völker, unabhängig von ihrer Kultur, voraussetzt. Dieses kollektive Unbewusste drückt sich in Bildern aus, die in allen Märchen und Mythen auftauchen. Diese These erklärt einige Erscheinungen im Märchen, aber sie scheitert an vielen Stellen. Einige Jungianer, wie die bekannte Forscherin Marie-Louise von Franz, führen diesen Mangel darauf zurück, dass es nationale Eigenarten gibt. Ja, dass es so etwas gibt wie »nationale Mythen«. Man vergisst dabei, dass Mythen und Märchen in uralten archaischen Gesellschaften entstanden: Sie waren längst etabliert, bevor es so etwas wie Nationen, geschweige denn Nationalismus gab. Nein, ich denke, diese Archetypen des Unbewussten reichen noch nicht, um Mythen und Märchen zu verstehen. Es müssen auch die kulturhistorischen und alltäglichen Lebenserfahrungen,die Utopien, Träume, Wünsche, Zukunftssorgen und andere Faktoren dazukommen, um eine gute Annäherung an das Wesen des Märchens als Brücke zu den vielen Kulturen zu ermöglichen. Und manchmal müssen wir – zum Glück – gar nicht zu deuten versuchen, was gemeint sein könnte. Vor allem dann, wenn hinter allem nichts außer der Freude am Erzählen steckt.
    Hermann Bausinger, der Volkskundler und Germanist, hat es zutreffend formuliert: »Die Märchen enthalten, ja sie sind Sinnbilder; aber sie ›meinen‹ nichts Bestimmtes.

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