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Die Frau, die ihren Mann auf dem Flohmarkt verkaufte: Oder wie ich zum Erzähler wurde (German Edition)

Die Frau, die ihren Mann auf dem Flohmarkt verkaufte: Oder wie ich zum Erzähler wurde (German Edition)

Titel: Die Frau, die ihren Mann auf dem Flohmarkt verkaufte: Oder wie ich zum Erzähler wurde (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rafik Schami
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Menschen berichten, weil sie immer das Trennende als sekundär an den Rand schieben und das Verbindende in den Mittelpunkt stellen. Die Erzähler schöpften aus der Weisheit ihrer Völker, indem sie sie belauschten, das Gehörte in eine Form gossen und dem Volk als Märchen zurückgaben.
    Sicher entstand und entsteht kein Märchen aus dem Nichts, sondern wurde von Menschen erfunden. In vorschriftlicher Zeit war das Märchen ein Nomade, der durch Orte und Zeiten wanderte, Veränderungen durchlebte, Varianten erzeugte, die manchmal mit ihrem Vorfahren nur noch den roten Faden gemeinsam hatten.
    Die Schrift hat das Märchen sesshaft gemacht. Und in dem Moment begann die Erfolgsgeschichte des Kunstmärchens. Damit war zudem eine der gravierendsten Veränderungen vollzogen, die das Märchen durch die schriftliche Fixierung erfuhr. Sie hat, ohne die Mühe der Sammler schmälern zu wollen, hier und da aus der unendlichen Dichte eines Volksmärchens, mit dem man erzählenderweise einen, wenn nicht mehrere Abende füllte, ein schmales Kunstmärchen von manchmal nicht mehr als einer Seite gemacht.
    Manche Geschichten sind in der Sammlung der Brüder Grimm wie auch in »Tausendundeiner Nacht« so gekürzt, dass selbst eine langsame Erzählerin sie in fünfzehn Minuten erledigt. Damit hätte Scheherasad niemals auch nur eine einzige Nacht überlebt. Dennoch ist es den Brüdern Grimm gelungen, die Märchen zu retten und lesbar zu machen. Abgesehen von der Zensur ist eine starke Reduktion und Konzentration des mündlich erzählten Textes notwendig, wünscht man ihm in der Schriftform ein langes Leben und große Verbreitung. Die schriftliche Fixierung einer mündlichen Erzählung im Verhältnis eins zu eins interessiert vielleicht Forscher, aber sie wird wohl kaum gelesen werden und verstaubt in den Regalen der Universitäten. Damit erweist man ihr einen Bärendienst: Dann lieber Grimm!
    Dennoch ist die schriftliche Variante, die in einem Buch festgehalten wird, nur eine von vielen Möglichkeiten, aus denen auszuwählen jedem Erzähler überlassen wird.
    Man sagt, Romane und Geschichten öffnen eine Tür zur Seele ihrer Schreiber und manchmal auch ein kleines Fenster zu deren Völkern. Aber ein Märchen kann viel mehr, als eine Tür oder ein Fenster öffnen. Es baut eine Brücke. Wir lesen und hören Märchen, aber die Distanz des Beobachters, die der Leser einer modernen Erzählung hat, verschwindet mit jedem Schritt, weil uns das Märchen, wenn es gut ist, auf besondere Art ins Geschehen hineinzieht. Wir verlieren die Distanz und wandern – sehr vertraut mit der Umgebung, wie exotisch diese auch sein mag – mit den Helden durch deren Orte und Zeiten.
    Ich erzähle seit fast fünfzig Jahren frei, und wenn ich gefragt werde, welche Freude dabei meine größte sei, so antworte ich, mitzuerleben, wie Zuhörerinnen und Zuhörer Umgebung und Alltag vergessen, manchmal sogar sich selbst, und über die Brücke in die Geschichte hineingehen, mit den Helden leben, sich freuen und auch tiefe Trauer empfinden.
    Ich weiß, dass das Publikum ein Koproduzent dieser Freude ist. Deshalb betone ich immer, dass ich großen Respekt vor ihm habe, weil es sich genau wie ich am Aufbau der Geschichte beteiligt.
    Während der Arbeit an diesem Vortrag führte ich noch einmal ein Selbstexperiment durch. Ich las am Tag mehrere Märchen aus den Sammlungen meiner Bibliothek. Ich wollte überprüfen, ob mich die Märchen immer zu ihren Orten tragen oder ob ich, weil ich sie so oft gelesen hatte, irgendwo hängen bleibe. Ich genoss sie alle, unabhängig davon, ob es sizilianische, indische, arabische, jüdische, deutsche, türkische, persische, afrikanische, amerikanische oder irische Märchen waren. Ich wanderte über eine Brücke von meinem Zimmer an den magischen Ort des Geschehens, fühlte mit den Helden, freute mich über ihre Siege, über eine gelungene List, ihre Liebe, trauerte mit ihnen über ihre Niederlagen und teilte mit ihnen Kummer und Sorge. Kaum war ich zurückgekehrt, nahm ich das nächste Buch, und schon war ich wieder auf der Brücke.
     
    WARUM GEHT DAS BEI MÄRCHEN SO LEICHT?
    Wenn man die Märchen der Völker vergleicht, findet man heraus, dass Märchen universelle Symbole einsetzen. Sie haben ähnliche Motive und behandeln die gleichen Grundthemen. Die universellen Symbole sind, im Gegensatz zu zufälligen und/oder konventionellen Symbolen, allen Menschen eigen. Sie wurzeln in deren Erfahrungen.
    Diese Ähnlichkeit verführte sogar

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