Die Frau, die ihren Mann auf dem Flohmarkt verkaufte: Oder wie ich zum Erzähler wurde (German Edition)
Visualisierung noch gefährdeter als andere.
Schweigen galt als negative Eigenschaft, bei Besuch als Unhöflichkeit. Aber dies hat auch seine Nachteile. Es erzieht die Kinder nicht zu nachdenklichen Menschen, sondern ermuntert sie, draufloszureden, auch über Dinge, die sie nicht überprüft haben oder verstehen können.
Geschichten hörte ich auf der Gasse, beim Einkaufen, im Innenhof unseres Hauses und vor allem an den Winterabenden. Aber die erste wirklich intensive Zuhör-Erfahrung hatte ich, als ich mit meiner Mutter über zwei Jahre und acht Monate hinweg, Nacht für Nacht, die Geschichten von » Tausendundeiner Nacht « im Radio verfolgte. Und wie im Buch auch wurden die Geschichten Nacht für Nacht an einer spannenden Stelle unterbrochen, und Scheherasad versprach dem gewalttätigen König, wenn er sie noch einen Tag leben ließe, würde sie ihm die Geschichte weitererzählen. Der Herrscher Schahrayar wurde durch die Macht und den Zauber der Worte dieser tapferen Frau in ein Kind verwandelt, das, genau wie ich, genau wie meine Mutter, sehnsüchtig auf die Fortsetzung wartete.
Bei Scheherasad begriff ich zum ersten Mal, dass Erzählendem Leben gleicht und Schweigen dem Tod. Es ist das höchste Lob, das Literatur je erhalten hat.
Mit meiner Mutter ging ich über tausendundeine Brücke zu den Völkern und Zeiten, und in jenen Nächten begriff ich, wie groß unsere Welt ist. Der Erdkundeunterricht in der Schule war dagegen ein langweiliger Brei aus Zahlen und Karten, die wir auswendig lernen sollten.
Als die letzte Nacht kam und die Geschichte endete, waren meine Mutter und ich enttäuscht. Wir konnten die offizielle Verlautbarung, Scheherasad habe aufgehört zu erzählen und lebe von nun an als brave Frau mit ihrem geheilten Mann, König Schahrayar, einfach nicht glauben. Aber das ist eine andere Geschichte.
Warum waren wir enttäuscht? Wir wussten beide, dass das Wort tausendundeins nicht nur die nackte Zahl 1001 meint, sondern ein Synonym für die Unendlichkeit ist. Und wir wussten beide, dass die Eröffnung kan ja ma kan nicht nur bedeutet, es war oder es war nicht , sondern auch es war unter anderem, was es war . Auch bei »Es war einmal«, dem Eröffnungssatz der meisten deutschen Märchen, wurde nicht nur die vergangene Zeit oder die Vergänglichkeit betont, sondern – wie es Ernst Bloch formulierte – auch die Zeit in einem utopischen Anderswo. Und damit entkommt diese Zeit den Krallen der Fixierung.
Das Arabische kennt die Verniedlichung nicht, die das deutsche Wort Mär (Kunde, Bericht) durch das »chen« erfahren hat. Für das Wort Märchen sagt man im Arabischen hikaja (Geschichte). Es stammt vom Verb haka , was im Sinne von »mündlich erzählen« gebraucht wird. Das Wort haka bedeutet aber auch: »die Wirklichkeit mit Worten nachahmen«. Es hat nichts Niedliches. Hier kommt der aristotelische Begriff der Nachahmung ins Spiel, nicht nurim Sinn einer angeborenen Fähigkeit aller Tiere, sondern auch auf einer menschenspezifischen, kulturell höheren Stufe: Der Mensch ahmt aus Freude an der Nachahmung nach und um dem Rezipienten Freude zu schenken und dabei auch noch zu lernen. Doch das Märchen sprengt die Grenzen der aristotelischen Nachahmung, wie ich noch erzählen werde.
Ein zweites Wort für Märchen ist churafa , was so viel wie »unglaubliche Geschichte« bedeutet. Es wird erzählt, das Wort sei der Name eines Mannes aus der Sippe der Udhra, der behauptete, die Dschinn hätten ihn entführt, und der nach seiner vermeintlichen Rückkehr Wundersames und Zauberhaftes vom Reich der Dschinn erzählte. So wurden später alle unglaublichen Geschichten churafa genannt.
Die zweite Bedeutung von churafa ist viel weiser und zutreffender. Charafa bedeutet ernten, daher heißt der Herbst, die Saison der Ernte, auf Arabisch charif. Und so ist das Märchen die Ernte des Lebens eines Menschen oder der ganzen Menschheit.
Dies, um einige Begriffe und ihre Nuancen in anderen Sprachen zu erklären.
Aber warum konnte ich als Kind, warum können Menschen in allen Ländern der Erde Geschichten aus fernen Zeiten und Orten verstehen und genießen? Warum war es für meine Mutter und mich gleichermaßen eine spannende Geschichte, obwohl uns fünfundzwanzig Jahre trennten? Selbstverständlich ist das nicht. Davon können moderne Autoren nur träumen.
Die Märchen können so viel bewirken, weil sie aus Hoffnungen, Sehnsüchten und Wünschen der Menschen entstanden, weil sie über Ängste, Trauer und Freude der
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