Die Frau, die ihren Mann auf dem Flohmarkt verkaufte: Oder wie ich zum Erzähler wurde (German Edition)
Deutschland, in Amerika, in Großbritannien, in Spanien, Griechenland, Italien, Schweden und weiteren Ländern so gut angekommen ist.
IBN ARISTO ÜBER DEN UNTERSCHIED ZWISCHEN DEM MÜNDLICHEN UND SCHRIFTLICHEN ERZÄHLEN
Meinetwegen, ruhe dich ein wenig auf deinen Lorbeeren aus und suhle dich in Dankbarkeit. Ich muss weiterarbeiten und noch zu Ende erzählen. Wo war ich stehengeblieben? Ja, genau, Mosaikbild oder Teppich. Aber die Geschichten bleiben zweidimensional. Die Protagonisten, auch Sindbad oder Odysseus, bleiben ohne psychologische Tiefe. Wir mögen sie dafür, was sie tun, wir bewundern sie, aber so viel wissen wir eigentlich nicht über sie. Sie handeln, und wir erkennen die Persönlichkeit anhand ihres Handelns.
Ein kleines Werk von Dürrenmatt (um nicht Kafka zu bemühen) wie »Die Panne« hat mehr psychologische Tiefe als die ganze »Odyssee« plus » Tausendundeine Nacht«, oder, um es korrekter zu sagen: lesbare psychologische Handlung. Im Mündlichen bleibt das Psychische eher im Hintergrund, aber es verschwindet nicht.
Doch effektiver als dieser Vergleich eines Schweizers mit einem alten Griechen oder Araber ist mit Sicherheit der Vergleich der vor- und nachschriftlichen Erzähltradition innerhalb einer Gesellschaft. Auch dafür wird man reichlich Beispiele finden: Alle handelnden Personen bei Homer sind flach und ohne bedeutende psychische Tiefe verglichen etwa mit Sophokles’ »Ödipus«.
Lieber Ibn Aristo, es gibt aber noch einen radikaleren Unterschied zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit. Das Mündliche lebt vom Augenblick seiner Geburt, das Schriftliche muss unabhängig davon sein.
Ein gesprochenes Wort kann Laut für Laut durch die Buchstaben der Schrift eingefangen sein, aber es ist nicht das Gleiche. Das gesprochene Wort lebt von der Stimme des Sprechenden, von der Atmosphäre, in der es gesagt wird, und vom Anlass, kurz: von der Authentizität. Es ist ein sensibles Wesen. Es bedarf vieler Hilfsmittel, um im Augenblick seiner Geburt zu wirken.
Geschrieben verliert das Wort all diese tragenden Elemente. Es steht fast nackt da und muss sich behaupten, etwas bedeuten.
Das geschriebene Wort ist so unabhängig vom Augenblick seiner Geburt, dass es auch nach dem Tod seines Schreibers wirken kann, ja wir lesen heute mehr von toten als lebenden Autoren.
Im Gegensatz zum Mündlichen hat das Schriftliche nicht so viele Hilfsmittel, um Stimmung und Atmosphäre zum Ausdruck zu bringen oder zu erzeugen. Kursiv, fett, Komma, Punkt, Doppelpunkt, Aufrufe- und Fragezeichen.
Oft greifen die Schriftsteller in die Trickkiste, um dem Mündlichen nahe zu kommen. Ihre Geschichte fängt damit an, dass ein Erzähler dem Schriftsteller all das erzählt hat, was passieren wird, und dass diese Zeilen, Seiten oder ganze Bände quasi ein ehrliches Protokoll der mündlich vorgetragenen Geschichte seien. Hier spricht also ein mündlicher Erzähler (via Autor, der sich als Protokollant vollkommenausradiert hat) scheinbar direkt zum Leser. Damit entsteht so etwas wie Unmittelbarkeit. Auch die Form der Debatte ist seit Platon beliebt. Das berühmte Symposion ist nichts anderes als das Protokoll eines angeblichen Trinkgelages, an dem Sokrates, Aristophanes, Phaidros und Alkibiades teilgenommen haben.
IBN ARISTO
Entschuldige bitte, wenn ich dich unterbreche! Ich muss sagen, du hast die Unterschiede einigermaßen verstanden. Und ich kann nur bestätigen, dass Stimme, Gestik, Mimik und die Aufnahme durch das Publikum den gesprochenen Worten eine Atmosphäre schenken, die in der schriftlichen Form nur die Poesie nachahmen kann. Und selbst dort, in der Poesie, kommt die Atmosphäre nur durch die Vorstellung eines mündlichen Vortrags zustande. Auch ein absoluter Büchernarr kann ein Gedicht nicht allein mit den Augen genießen, sondern mittels der Vorstellung des Klanges seiner Worte, was wir etwa beim wissenschaftlichen Lesen überhaupt nicht brauchen. Woher kommt das aber? Die Antwort ist nicht schwer:
Das Mündliche verfolgt das Ziel, die Zuhörer zu informieren und/oder zu überzeugen. Die Rede will in erster Linie Meinungen bilden, Meinungen ändern oder auch ein Handeln bewirken. Und wir wissen, dass das gesprochene Wort für die Motivation sowie bei emotionalem und auch rationalem Handeln eine entscheidende Rolle spielt. Liebe, Erziehung, Krieg und Revolutionen wären undenkbar ohne das gesprochene Wort, aber sie waren wohl möglich ohne Schrift.
Entschuldige bitte, Ibn Aristo, du zwingst mich durch deine
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