Die Frau, die ihren Mann auf dem Flohmarkt verkaufte: Oder wie ich zum Erzähler wurde (German Edition)
maßlose Übertreibung, den Advocatus Diaboli zu spielen, darum sage ich: Ohne Schrift wäre unsere Zivilisation nicht möglich, ohne Schrift wäre keine Religion vonDauer, deshalb auch verschwanden alle vorschriftlichen Religionen. Es gilt auch als sicher, dass Bibel, Evangelium und Koran lange mündlich vorgetragen worden waren, bevor sie schriftlich festgelegt wurden. Also herrschte in der mündlichen Überlieferung das mythologische Bewusstsein, während die Schrift vom theologischen Bewusstsein dominiert wurde. Ihre schriftliche Fixierung machte sie zur dauerhaften Religion. Und es ist kein Zufall, dass der Islam ausdrücklich Respekt jenen Religionen zollt, die ein »heiliges« Buch besitzen.
Der Klang umgibt die Zuhörer und führt eher zu einem ganzheitlichen Bewusstsein. Sehen erregt die Neugier des Sehenden auf die Welt und fördert eher sein forschendes Bewusstsein. In den vorschriftlichen Gesellschaften lebte man auf engstem Raum. Man kannte keine Privatheit, auch nicht für die Sexualität. Das Alleinsein war verpönt, und wer sich zurückzog, galt als anormal, als wahnsinnig oder besessen. Die Stille der Einsamkeit, Voraussetzung für Erfindung, Nachdenken und Philosophie, war erst in Gesellschaften anerkannt, die die Schrift kannten.
Eine weitere Entwicklung war, dass die Schrift in jeder Sprache einen Dialekt zur Hochsprache erhoben, mit Regeln, Ge- und Verboten versehen und zum Sieger gegen alle anderen Dialekte erklärt hat. Und nicht selten wurde er dadurch entwurzelt, dann aber mit neuen Ausdrücken hundertfach reicher gemacht. Dieser Prozess zeigt, wie stark Schrift oder Verschriftlichung unsere Zivilisation verändert hat.
Das geschriebene Wort hält das Gesagte präzise fest, ohne die Atmosphäre, die der mündliche Vortrag erzeugt, mitzutransportieren. Ich habe drei mündlich gehaltene Reden von berühmten arabischen Rednern analysiert, die charismatische Ausstrahlung und damit Tausende, ja Millionen von Menschen spontan bewegt hatten. Es sind der berühmte ägyptische Präsident Nasser, der allseits bekannte Yassir Arafat und Nayef Hawatme, ein hier in Europa wenig bekannter Marxist-Leninist, dessen Organisation in den siebziger und achtziger Jahren im Nahostkonflikt eine große Rolle durch gewagte Thesen und Vorschläge zur Lösung des Palästinakonflikts gespielt hat. Alle drei mit Tonband aufgenommenen Reden verloren ihren Glanz, als ich sie mir noch einmal in schriftlicher Form (wortwörtliche Abschrift) zu Gemüte führte. So politisch verschieden die Inhalte auch waren, sie hätten, unabhängig von meiner Sympathie und Antipathie, jeweils auf ein Zehntel des Volumens reduziert werden können. So wirkten sie durch viele Redundanzen und ein Chaos von unzähligen Abschweifungen breitgetreten in der Form. Das reicht, um zu zeigen, welche Wirkung solche Reden haben können.
IBN ARISTO
Und damit, so sagt man, sei auch bewiesen, dass das Schriftliche anspruchsvoller, schwieriger sei als das Mündliche. Das ist aber eine falsche Konsequenz, weil man im Schriftlichen immer noch die Gnade der Korrektur hat. Man kann einen Text so oft korrigieren, umformulieren, schleifen, bis man der Meinung ist, nun entspreche er genau dem, was man sagen will. Jeden Satz dieses Vortrags hast du, wie ich vermute, bestimmt sieben- oder zehnmal gelesen, korrigiert, umformuliert, manchmal auch völlig neu geschrieben. Auch hat deine tüchtige Mitarbeiterin und Lektorin alle Fehler daran weggeschliffen, die einem in der Sprache nicht geborenen ausländischen Autor unterlaufen. Das ist zwar Arbeit, aber sie ist machbar. Im Mündlichen ist diese Möglichkeit nicht gegeben. Ein einmal gesprochenes Wort ist nicht mehr zurückzunehmen oder zu korrigieren. Stell dir einen Redner vor, der jeden Satz siebenmal umformuliert und dann fortfährt, um gleich darauf dem Publikum mitzuteilen, dass der erste Teil seiner Rede nun doch zum Ende hin geschoben wird, dafür habe er zwei Absätze als Anfang der Rede besser gefunden, die er nun, gestützt auf das phänomenale Gedächtnis des Publikums, vortragen wolle. Ich übertreibe nicht, wenn ich sage, bei diesem Verfahren wäre die Hälfte der Zuhörer weggelaufen.
Entschuldige bitte, lieber Ibn Aristo, lass mich weitererzählen, bevor wir beide durch deine ausgezeichneten, wissenschaftlich unentbehrlichen Erklärungen dem Publikum entbehrlich werden.
Meine Voraussetzungen im Exil waren: viele Geschichten im Herzen und passable Deutschkenntnisse als Ausrüstung im Kopf und auf
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