Die Frau, die ihren Mann auf dem Flohmarkt verkaufte: Oder wie ich zum Erzähler wurde (German Edition)
selbst zur Grundlage einer neuen geistigen Kultur oder Kultur des Geistes.«
Sicher ist unsere Zivilisation undenkbar ohne die Schrift, die das menschliche Denken speicherte, ordnete, seiner Sprache mit logischen Regeln der Grammatik einen soliden Bau schenkte, sie durch diese Regeln klarer und präziser machte …
Die Schrift degradiert aber das gesprochene Wort als Ausdruck der Wahrnehmung und verweist es auf den zweiten Platz der Hierarchie.
Das war aber nicht immer so. Sokrates und Platon standen der Schrift skeptisch gegenüber. Platon hielt das gesprochene Wort für das Original, während die Schrift nur ein Abbild sein kann. Auch viele andere Philosophen fürchteten, dass die Schrift die Gefahr der Vergesslichkeit berge. Durch das externe Speichermedium würde das Gedächtnis vernachlässigt und somit bereits erworbenes Wissen vergessen.
In einem von Platon überlieferten Dialog zwischen Phaidros und Sokrates erzählt dieser einen (erfundenen) Mythos über die Entstehung der Schrift. Demnach brachte der ägyptische Gott Theut dem König Thamus neben Mathematik und Sternkunde auch die Schrift bei und versuchte dem König diese Gabe als Geschenk darzustellen, das die Ägypter klüger mache und ihr Gedächtnis verbessere. Doch König Thamus lehtne es ab mit den Worten: »Diese Erfindung wird in den Seelen derer, die sie erlernen, Vergesslichkeit bewirken, weil sie ihr Gedächtnis nicht mehr üben; denn im Vertrauen auf Geschriebenes lassen sie sich von außen erinnern durch fremde Zeichen, nicht von innen heraus durch sich selbst. Also hast du ein Mittel nicht für das Gedächtnis, sondern eines für die Erinnerung gefunden. Was aber das Wissen angeht, so verschaffst du den Schülern nur den Schein davon, nicht wirkliches Wissen.«
Mit Sicherheit gab es eine Übergangszeit, in der beide Formen nebeneinander existieren konnten. Das heißt, solange die Schriften Handschriften waren, animierten sie zum lauten Vortrag. Und jahrhundertelang galt das Geschriebene als Anhängsel des gesprochenen Wortes.
Die Schrift galt ohne Zeugen als unzuverlässig. Im Islam galt der Inhalt ( matn ) eines geschriebenen Wortes des Propheten Muhammad ( hadith ) nur, wenn es genügend Zeugen ( isnad ) nachwies. Die chronologisch aufgebaute, häufig sehr lange Liste der – nicht selten bis vierzig – Namen der Überlieferer wurde dem Inhalt vorangestellt. Sie vermittelte Kontinuität der Beweise bis zurück in die Zeit des Propheten. Das letzte Glied der Kette musste immer ein Gefährte des Propheten sein, der dann als erster die prophetische Aussage bezeugt. Ein Hadith mit wenig Zeugen gilt als schwach.
Auch in Europa wurden im Mittelalter Geschäftsbücher laut vorgelesen, um allen zu versichern, dass die Eintragung vertrauenswürdig sei. Das Wort für Buchüberprüfung hieß »Audit« (lat. audire, hören), und das bedeutet so viel wie Anhörung.
Aber spätestens mit dem Einzug des Buchdrucks im 15 . Jahrhundert und der Verbreitung der klaren Druckschrift wurde das Lesen immer leiser, bis es völlig verstummte.
Vergleicht man die Körperhaltungen, so sieht man, dass der Körper beim Schreiben und Lesen das Blatt Papier, das Buch mehr oder weniger umschließt. Manchmal sehe ich dabei das Bild eines Erwachsenen, der ein kleines Kind in den Händen hält, anschaut, anlacht und kitzelt. Beim Erzählen dagegen öffnet sich der Körper und streckt die Hände von sich wie ein Baum seine Äste. Mancher Erzähler kann nicht gut erzählen, wenn seine Hände nicht frei sind.
Zudem baut das Bewusstsein bei der mündlichen Wiedergabe auf das Hören, beim Lesen auf das Sehen. Und heute ist man sich in der Wissenschaft sicher: »Hören ist die Sinneswahrnehmung, die am tiefsten ins Innere eindringt.«
Wir bilden uns oft ein, dass Sprache und Schrift das Gleiche darstellen oder auch sind, oder dass die Schrift die Haupterscheinungsform der Sprache ist, aber das ist falsch. Und genauso unterscheiden sich die mündliche Erzählkunst und ihre schriftliche Schwester.
Nun reicht es für eine Weile, lieber Ibn Aristo. Wenn du erlaubst, setze ich meine Geschichte fort.
Ich hatte keine Vorstellung, was es bedeutet, von einer Mauer des Schweigens umgeben zu sein. Da Informationen über die Arbeitsbedingungen der Emigranten- und Exilautoren nur spärlich zu uns gelangten und oft, wie bei Khalil Gibran, romantisch verklärt waren, war ich so naiv zu denken, ich könnte meine Literatur von Europa aus veröffentlichen. Das war für mich der erste
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