Die Frau, die ihren Mann auf dem Flohmarkt verkaufte: Oder wie ich zum Erzähler wurde (German Edition)
Chance.
Der mündliche Erzähler im vorschriftlichen Zeitalter fühlte weniger die Verpflichtung, einem Schema mit Anfang – Höhepunkt – Ende zu folgen, für ihn war vielmehr der Augenblick das Wichtigste. Er war wie ein Sänger immer nur seinem Publikum verpflichtet. Eine merkwürdige Symbiose zwischen Erzähler und Zuhörern entsteht. Der Erzähler ist der Verführer der Zuhörer und zugleich wird er von ihnen verführt. Er weiß, dass die Aufnahmefähigkeit und -bereitschaft Voraussetzungen für das Gelingen seiner Erzählung sind. Hier liegt auch eine Gefahr, genauer gesagt eine doppelte Gefahr: einmal am Zuhörer vorbeizuerzählen und einmal ihm nach dem Munde zu reden. Oft beobachte ich, dass die Abschnitte, die spontan eine große Begeisterung, eine Stimmung erzeugen, bei genauer Prüfung literarisch nicht standhalten.
Immer wieder stelle ich auch fest, dass Abschnitte eines Romans oder eine Geschichte, die bei einem Publikum wenig Stimmung erzeugen, bei einem anderen große Begeisterung auslösen. Das hängt nicht nur vom Publikum, sondern auch vom Erzähler und der Erzählsituation ab. Das aber befreit den Erzähler von allzu großen Rücksichten. Er verdankt den Zuhörern seinen Erfolg, aber er ist ihnen nicht verpflichtet. Im Gegenteil, je mehr er auf Figuren, Stil, Aufbau und Spannung der Geschichte achtet, umso begeisterter wird sein Publikum sein.
Das Anliegen aller mündlichen Erzähler war seit Urzeiten, sofort mit dem Publikum ins Geschehen zu gelangen. Und nicht selten wird die ganze Geschichte gleich am Anfang verraten. Aber eigentlich verrät man gar nichts, denn Geschichten haben seit Menschengedenken die gleichen Themen, sei es nun Mord, Liebe, Hunger, Lust, Betrug, Rettung, Hoffnung oder Zweifel. Es kommt den Zuhörern auf die Variationen an. Der Erzähler treibt die Geschichte voran, verweilt bei einem Gegenstand, einem Geschehen, schweift aus, kehrt zurück oder beginnt, kurz vor dem Ende einer Geschichte, mit einer anderen. Auf diese Weise verschachtelt er seine Geschichten – sie sind tatsächlich wie Schachteln, die man öffnet, um andere Schachteln darin zu entdecken, und dann kehrt man wieder zur bereits geöffneten Schachtel zurück und betrachtet ihren Inhalt. Auch der oft gebrauchte Begriff vom Geschichten-Weben ist dienlich. Der Erzähler folgt beim Weben eines Erzählteppichs einem roten Ornament, wechselt dann zu einem grünen, kehrt für eine Weile zum ersten zurück, wechselt dann zu einem gelben Ornament, kehrt zum grünen zurück und von dort wieder zum roten.
Mündliches Erzählen kann auch mit einem Mosaikgemälde verglichen werden. Hunderte, ja Tausende von bunten Steinchen setzen das ganze Bild zusammen, aber jedes Steinchen für sich ist eine in sich geschlossene Geschichte, die in Fortsetzungen in ähnlichen Farben an einer anderen Stelle wieder aufgegriffen werden kann. Sie alle aber sind miteinander durch Mörtel verbunden.
Lieber Ibn Aristo, nichts für ungut. Ich verspreche dir aber, diesen Punkt nicht zu vergessen. Ich werde über die Spuren der Mündlichkeit sprechen, die all meine literarischen Arbeiten, fast alle Arbeiten der guten arabischen Erzähler prägen. Und genau dieser Charakter der Mündlichkeit in der arabischen Literatur wurde bei der Übertragung in die deutsche Sprache sträflicherweise zensiert, was zu einer Kastrierung der Romane und zu ihrem Scheitern führte. Ich verspreche, darüber noch zu reden, aber lass mich bitte nun weiter von meinem Leben als Erzähler im Exil berichten.
Mein anfängliches Unglück, nämlich keinen einzigen arabischen Verleger zu finden, der Interesse an meinen Texten gezeigt hätte, brachte mir unfreiwillig ein seltsames Glück: Ich schrieb meine Geschichten und Romane direkt auf Deutsch und erhielt ihren mündlichen Charakter, so gut es mir und der erzählten Geschichte möglich war. Und das sollte später bezeichnend werden für meinen Stil. So sind die meisten meiner Kurzgeschichten, meiner magischen Geschichten und Märchen, meiner Romane und Satiren kleine und große Teppiche. Für den großen Roman »Die dunkle Seite der Liebe« baute ich ein Mosaikbild mit 304 Steinen, sprich Geschichten. Ich habe mich nach langer Suche für die Mosaiktechnik entschieden, weil sie Pausen erlaubt und brüchig ist wie die 110 Jahre der Familiensaga, wie jede Biographie meiner Generation. Wie bei keinem anderen meiner Bücher bin ich zutiefst dankbar, dass dieser tausendseitige Roman bei den Lesern und Kritikern in
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