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Die Frau, die nicht lieben wollte und andere wahre Geschichten über das Unbewusste (German Edition)

Die Frau, die nicht lieben wollte und andere wahre Geschichten über das Unbewusste (German Edition)

Titel: Die Frau, die nicht lieben wollte und andere wahre Geschichten über das Unbewusste (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen Grosz
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wenn ich schon Kinder habe. Kinder bedeuten eine große Verantwortung.«
    »Haben Sie Angst, sexuelle Gefühle für Ihre Kinder zu empfinden?«, fragte ich.
    »Nein, überhaupt nicht«, lautete die Antwort.
    Aus meinen Notizen wurde ersichtlich, dass wir uns eine Weile derart im Kreis gedreht hatten. Michael schien ein tief sitzender Zweifel zu plagen, eine Sorge über etwas, von dem er überzeugt war, dass es mit seiner Sexualität zu tun hatte, nur konnte ich mir kein klares Bild davon machen, worum es sich dabei handeln könnte. Er erzählte, er sei ein Spätzünder und Claire seine erste und einzige Freundin. Einmal erklärte er auch, dass ihm ihre Leidenschaft peinlich sei, doch konnte er dies nicht weiter ausführen. Und obwohl alles, was Michael mir erzählte, Bedeutung zu haben schien, verstand ich nicht, was er meinte, wenn er sagte, er zweifle an seiner Sexualität.
    In meinen Notizen hatte ich den Gedanken festgehalten, dass er mir unfähig schien, den Verlust ertragen zu können, der mit jeder Ehe einhergeht. Damit meinte ich nicht nur jenen Verlust, der bedeutet, dass man danach kein Kind mehr ist, sondern auch den Verlust gewisser Möglichkeiten, die ihm bis dahin offengestanden hatten. Außerdem verblüffte mich seine Unreife; der Mangel an Mitgefühl war eindeutig pubertär. Er schien kaum eine Ahnung von dem Schmerz zu haben, den er der Verlobten zufügte. Seiner Beschreibung nach befand sie sich eindeutig in einem Schockzustand.
    Er erzählte mir, seine Eltern und Freunde hielten Claire für eine wundervolle Frau – klug und warmherzig. Er stimmte ihnen zu. Sie waren außerdem davon überzeugt, dass er sie verlieren würde, wenn er ihr keinen Antrag machte. Als er sich dabei ertappte, wie er Claire erzählte, dass er Kinder und die Ehe mit ihr wollte, machte er ihr einen Antrag, und sie hatten ein Haus gesucht und ihre Hochzeit geplant. Er hatte all das getan, weil er meinte, es tun zu müssen, es wollen zu müssen, doch nun saß er hier, wenige Wochen vor seiner Hochzeit – und glaubte, nicht weitermachen zu können.
    Ich wollte mir einreden, dass es Mut erforderte, die Hochzeit abzusagen, aber er schien sie ebenso gedankenlos zu beenden, wie er sie eingefädelt hatte. Und das mit seiner Sexualität kam mir auch nicht ganz geheuer vor – ich nahm an, dass es die einzige Entschuldigung war, von der er annahm, dass sie allgemein akzeptiert wurde.
    Es war offensichtlich, dass er verzweifelt versuchte, die Hochzeit zu verhindern, doch konnte er eigentlich keinen Grund dafür nennen, und ich konnte ihn nicht finden. In meinen Notizen hielt ich fest, dass er in Depressionen abglitt und schnelle Hilfe benötigte. Er brauchte einen erfahrenen Therapeuten, der ihm helfen konnte, die Ursache seiner Depressionen besser zu verstehen und ein deutlicheres Bild von den zugrundeliegenden Sorgen zu gewinnen.
    In meinen Notizen hielt ich noch etwas fest, und dies mag die Ursache dafür sein, warum ich seine Stimme am Telefon nicht gleich erkannte – ich spürte, dass ich nicht richtig zu ihm durchgedrungen war.
    Bei einer Konsultation muss ich Informationen sammeln – die Lebensgeschichte des Patienten, die Geschichte seiner Probleme –, das Wichtigste aber ist, dass der Patient mich mit dem Gefühl verlässt, gehört worden zu sein. Gegen Ende eines ersten Treffens sollte er spüren, dass das, was er sagen wollte, sagen musste, gesagt, gehört und bedacht worden war. In fast allen Konsultationen gibt es diesen Moment, in dem es Klick macht, in dem beide spüren, dass es ein Verstehen gibt. Wenn das passiert – und das kann in jedem Augenblick des Gesprächs geschehen – ahnen Patient wie Analyst, dass die Konsultation zu Ende ist, dass getan wurde, was nötig war – bloß war es mit Michael dazu nicht gekommen.
    Ich hatte eine Reihe von Überlegungen angestellt und sie vor ihm ausgebreitet, doch blieb letztlich das Gefühl zurück, dass ich mit keiner davon zu ihm durchgedrungen war. Als es dann Zeit wurde, sich zu verabschieden, überkam mich ein vages Gefühl des Scheiterns. Ich tröstete mich mit dem Gedanken, dass Michael nicht so sehr daran gelegen hatte, gehört zu werden, als vielmehr daran, etwas von mir zu bekommen – er wollte seine Verlobung beenden und schien dazu meine Erlaubnis zu brauchen. Ich fand, er wollte, dass ich etwas sagte, mit dem er zu seiner Verlobten und zu seinen Eltern gehen konnte, dass ich ihm eine Art Attest ausstellte, mit dem er von der Hochzeit befreit

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