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Die Frau, die nicht lieben wollte und andere wahre Geschichten über das Unbewusste (German Edition)

Die Frau, die nicht lieben wollte und andere wahre Geschichten über das Unbewusste (German Edition)

Titel: Die Frau, die nicht lieben wollte und andere wahre Geschichten über das Unbewusste (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen Grosz
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wurde – für immer.
    In seiner Akte fand sich nur noch ein einziges Dokument, die Fotokopie meines Briefes, in dem ich die Konsultation zusammenfasste und Michael an Dr. H. verwies. »Wer weiß«, hatte ich dazugesetzt, »vielleicht muss er nur den richtigen Menschen kennenlernen.«
    Ich saß am Schreibtisch, schloss die Akte und fragte mich, was in der Zwischenzeit aus Michael geworden war. Und was ihn davon abgehalten hatte, Claire zu heiraten. Ich stellte die Akte zurück in den Schrank und schloss für diesen Tag meine Praxis.
    Ein paar Tage später als geplant kam Michael zu seinem Termin. Er legte das Jackett ab, setzte sich auf den Stuhl, und während er sich im Zimmer umschaute, warf ich einen Blick auf seine linke Hand, um zu sehen, ob er einen Ehering trug. Tat er nicht. »Wir haben beide ein paar weiße Haare mehr«, sagte er.
    Einen Moment lang schwiegen wir beide. »Wie kann ich helfen?«, fragte ich.
    Er blieb kurz stumm und sagte dann: »Unter anderem haben Dr. H. und ich herausgefunden, dass mir die Psychoanalyse nicht so richtig helfen kann. Ehrlich gesagt, meine Analyse mit Dr. H. war eigentlich ein Fehlschlag – aber ein Fehlschlag, der sich durchaus gelohnt hat.«
    Ich sagte ihm, ich sei nicht sicher, ob ich verstünde, was er meinte.
    Für einen Augenblick schien er in den Anblick von etwas verloren zu sein, das nur er allein sehen konnte, dann sagte er: »Kennen Sie die Geschichte von Franz Kafka und Felice Bauer? Fünf Jahre lang hatte Kafka eine intensive Beziehung mit ihr, schickte ihr oft täglich mehrere Briefe. Sie wohnte in Berlin, er in Prag – selbst damals keine allzu große Entfernung, doch in den fünf Jahren, in denen sie verlobt waren, trafen sie sich bloß zehnmal und selbst dann meist nur für ein, zwei Stunden.« Liest man Kafkas Briefe, erzählte Michael weiter, wird deutlich, dass er sich gewöhnlich große Sorgen machte – er wollte wissen, wohin Felice ging, mit wem sie sich traf, was sie aß oder was sie anhatte. Und Kafka verlangte auf seine Briefe eine sofortige Antwort. Wenn er die nicht bekam, wurde er sehr ärgerlich. Zweimal stellte er ihr einen Heiratsantrag, und zweimal zog er ihn zurück – die Hochzeit hat niemals stattgefunden. Michael sagte, für Kafka sei die Trennung von Bauer unerträglich gewesen. Allein ihre Nähe habe er noch verstörender gefunden.
    »Kafka hat sich immer wieder auf solche Beziehungen eingelassen«, fuhr er fort. »Heutzutage würden wir vielleicht sagen, er sei schizoid gewesen, oder er hätte an einer leichteren Form des Asperger-Syndroms gelitten, doch vermitteln diese Worte keinen Eindruck davon, worum es eigentlich geht. Der Mensch, den er am stärksten mied, war der Mensch, von dem er am stärksten abhängig war – der Mensch, nach dem er sich mehr als nach jedem anderen sehnte.
    Und genau das ist meine Geschichte – mit Claire und mit Dr. H. Je stärker ich mich im Laufe der Zeit auf Dr. H. verließ, je mehr ich spürte, wie sehr ich seine Hilfe brauchte, desto häufiger ließ ich die Sitzungen ausfallen und wollte die Analyse insgesamt beenden.«
    Er erzählte, als er bei Dr. H. anfing, sei er deprimiert gewesen – er hätte sich dafür geschämt, die Hochzeit abgesagt zu haben und ihm sei es peinlich gewesen, was er den Leuten erzählt hatte. Er gab sein Forschungsstipendium in Mathematik zurück, nahm eine Stelle bei einer Bank an und befasste sich mit der Entwicklung von Computermodellen. Nach etwa sechs Monaten hatte er eine neue Wohnung und begann, Gefallen an seinem Job zu finden – »Ich habe mich etwas besser gefühlt. Und da die Therapie anfangs so gut lief, dauerte es eine Weile, bis auch nur einer von uns Offenkundiges begriff: etwa meinen Drang, die Distanz zwischen uns kontrollieren zu müssen. Normalerweise kommen sich Menschen im Verlauf der Zeit einander näher. Ich kann das nicht. Mein Vertrauen scheint nicht zu wachsen – jedenfalls kaum.«
    Als er ein weiteres Mal mit einer Freundin brach, wurde die Situation klarer. Er hatte sich mit jemandem in New York angefreundet, doch fand die Beziehung größtenteils übers Telefon statt. Michael rief sie an jedem Wochentag an, sobald sie von der Arbeit nach Hause kam oder kurz bevor sie ins Bett ging. Sie sahen sich etwa alle drei Monate. »Sie fand, wir sollten uns öfter sehen – das fand ich auch. So sollte es doch sein, oder nicht? Aber ich brachte es nicht fertig – wir redeten über meine Angst vor Nähe, meine Angst vor einer

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