Die Frau, die nicht lieben wollte und andere wahre Geschichten über das Unbewusste (German Edition)
keinen Sinn. Schließlich erfand Francesca ja Henrys Verhalten nicht. Sollte ich gleichsam stellvertretend ihre Sorgen tragen? Wollte sie, dass ich in ihr ein Opfer sah, die arme Leidtragende? – doch aus welchem Grund? Wir gingen näher auf die Beziehung zu ihren Eltern ein, die mir stets ein gewisses Rätsel geblieben war. Ich fand, sie wirkten höflich und distanziert. Der Vater arbeitete beinahe pausenlos in seinem kleinen Bilderrahmengeschäft. Außerdem fiel mir auf, dass die Eltern zwar in der Nähe wohnten, die Mutter ihre Tochter aber nur selten besuchte. Sie legte auch kein besonderes Interesse für ihre Enkelin Lottie an den Tag.
Als ihre Mutter sie allein zu einem Mittagessen einlud, rechnete Francesca folglich damit, dass sie ihr etwas Wichtiges mitzuteilen hatte – Geldsorgen? Krebs? Stattdessen bekannte sie, dass Francescas Vater über dreißig Jahre lang eine Affäre mit seiner Geschäftspartnerin June gehabt hatte. Die Eltern versuchten nun, zu retten, was noch zu retten war. Ihr Vater verkaufte seinen Anteil am Geschäft; außerdem lösten sie sämtliche persönlichen Bindungen zu June und ihrem Mann. Allerdings wusste ihre Mutter nicht genau, was sie eigentlich wollte.
Ich fragte Francesca, wie ihre Mutter die Affäre entdeckt hatte.
»Hat sie nicht«, sagte Francesca. »Junes Mann hat es ihr erzählt. Er wusste seit Jahren Bescheid. Und er hat Mum etwas in der Annahme gesagt, dass sie es ebenfalls wisse.«
Francesca war von den Neuigkeiten ihrer Mutter nicht im mindesten überrascht. Sie erinnerte sich an diverse Augenblicke, in denen sie gesehen hatte, wie June und ihr Vater sich auf eine Weise benahmen, die verriet, dass sie ein Liebespaar waren. Francesca erzählte, wie sie eines Tages einmal nach der Schule, sie war fünfzehn oder sechzehn Jahre alt, spontan zum Geschäft gegangen war. Als sie vorm Eintreten durchs Fenster blickte, sah sie die beiden im leeren Schauflächenbereich, wie sie sich über einen Tisch beugten, um ein Bild zu betrachten; die Köpfe berührten sich fast. Ihr Vater hatte June einen Arm um die Hüfte gelegt. Einen Moment später schaute er auf, entdeckte sie, wurde blass und trat abrupt einen Schritt zurück. Sobald er sich wieder gefasst hatte, stürzte er zur Tür und bat sie mit weit ausholender Geste und viel zu lauter Stimme herein.
Kaum hörte ich von der Affäre ihres Vaters, dachte ich, sie könne vielleicht erklären, warum Francesca so blind gegenüber Henrys Verhalten war – warum sie, aus einem mir noch unbekannten Grund, eine Version ihres Vaters geheiratet und die Rolle ihrer Mutter übernommen hatte. Als Francesca einige Tage später erneut eines von Henrys Manövern beschrieb – er war fast die ganze Nacht ›mit einem Kunden‹ unterwegs gewesen –, machte ich sie darauf aufmerksam, wie sehr ihre Ehe der ihrer Eltern glich. »Henry scheint eine Frau gefunden zu haben, die – wie Ihre Mum – beide Augen vor jedem Anzeichen von Untreue verschließt.«
»Aber ich bin überhaupt nicht wie sie«, erwiderte Francesca. »Ich habe meiner Mum alles erzählt – auch, dass ich sie im Geschäft zusammen gesehen hatte. Viele Male habe ich sie gefragt, ob es ihr denn keine Angst mache, dass Daddy und June ständig zusammen seien. Und immer hat sie geantwortet: ›Aber nicht doch, sie sind nur Geschäftspartner.‹ Ich wusste, irgendwas ging da vor sich, aber ich konnte Mum nicht davon überzeugen.«
Mir schien, dass Francesca nicht nur in die Rolle ihrer Mutter als betrogene Ehefrau geschlüpft war – sie brachte mich außerdem in dieselbe Lage, in der sie sich als Kind befunden hatte. Versuchte sie, mir unbewusst und unwillentlich mitzuteilen, wie verzweifelt und einsam sie sich gefühlt haben musste?
Francesca erzählte: »Auf einer gewissen Ebene musste Mum Bescheid gewusst haben, nur konnte sie sich das nicht eingestehen. Ihre ganze Welt wäre in die Brüche gegangen. Sie hätte ihre Familie verloren, ihr Zuhause. Ohne diese Verdrängung wäre sie zusammengebrochen.« Dennoch hat die Verhaltensweise ihrer Mutter Konsequenzen gehabt.
Francescas Mutter stellte die Erklärungen ihres Mannes über die ihrer Tochter. Indem sie nicht auf das reagierte, was Francesca ihr zu erzählen versuchte, schuf sie eine unmögliche Distanz zwischen ihnen.
Zu Beginn von Francescas drittem Analysejahr musste Henry berufsbedingt für ein Jahr nach Paris. Für gewöhnlich nahm er am Montagmorgen den Eurostar, blieb die Woche über in der Firmenwohnung und
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