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Die Frau, die nicht lieben wollte und andere wahre Geschichten über das Unbewusste (German Edition)

Die Frau, die nicht lieben wollte und andere wahre Geschichten über das Unbewusste (German Edition)

Titel: Die Frau, die nicht lieben wollte und andere wahre Geschichten über das Unbewusste (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen Grosz
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ich.
    »Sie gibt mir einen Kuss, wenn ich komme und einen, wenn ich gehe; außerdem sie ist sehr körperlich – fasst mich an, wenn sie redet, und manchmal halten wir Händchen, aber Sex hatten wir noch nie miteinander.«
    »Trotzdem bezahlen Sie sie, wenn Sie sich treffen?«
    »Ich gebe ihr Geld, aber ich bezahle sie nicht. Ich kaufe ihr Sachen, die sie braucht, gebe ihr Geld für ihre kranke Mutter – ich versuche zu helfen. Eine Zeitlang habe ich gedacht, ich würde Sex mit ihr wollen, wenn ich nicht dafür zu bezahlen brauche, aber mittlerweile finde ich, das wäre falsch. Ich hoffe, dass sie mit der Prostitution aufhört, dass ich ihr einen Platz in der Welt verschaffen kann und dass sie mich für das liebt, was ich für sie getan habe.«
    Im Laufe der Jahre habe ich mehrere männliche Patienten gehabt, die sich zu Prostituierten hingezogen fühlten. Durch das Typische einer schnellen Nummer – die Vermeidung von Abhängigkeit und emotionaler Intimität – fühlt sich Sex sicherer an. Außerdem ist Prostitution natürlich eine finanzielle Transaktion, und die belebt die Phantasie. Für Joshua aber bedeutete Alison etwas völlig anderes.
    »Hören Sie auf das, was Sie sagen«, riet ich ihm. »›Ihr einen Platz in der Welt verschaffen‹, ›dass sie mich für das liebt, was ich für sie getan habe‹. Sie klingen wie eine Mutter, die über ihr Baby redet.«
    Joshua nahm noch einen Schluck Wasser. »Also mache ich all das nur, weil ich auch eine Mutter sein möchte? Weil ich neidisch auf meine Frau bin?«
    Ich gab keine Antwort. Es mochte stimmen, dass er seine Frau um die Beziehung zu ihrem Sohn beneidete; dies würde ein wenig die Eigenart seiner Beziehung zu Alison erklären, vor allem seine mütterliche Fürsorge und das Fehlen von Sex. Allerdings schien es mir auch möglich, dass er den Neid auf seinen Sohn auslebte. Indem er versuchte, Alison von der Prostitution abzubringen, versuchte er vielleicht auch, den Männern eine Frau zu nehmen – so wie ihm der Sohn die Frau genommen hatte. »Waren Sie früher schon einmal bei einer Prostituierten?«, fragte ich.
    »Nein, noch nie«, antwortete er und erzählte dann, dass er seit acht Jahren mit Emma zusammen und ihr bis heute nicht untreu gewesen sei – nun, bis zu dieser Sache mit Alison. »Habe ich Ihnen schon gesagt, dass sie dem Baby denselben Kosenamen gegeben hat, den sie mir gab?«
    »Sie sagen, Sie seien Emma immer treu gewesen, aber etwas habe sich verändert. Ich glaube, Sie betrügen Ihre Frau, weil Sie sich betrogen fühlen.«
    Joshua beugte sich vor. »Erinnern Sie sich an den Urlaub, den Emma und ich vor zwei Jahren während der Sommerferien gemacht haben? Fast einen ganzen Monat lang hatten wir dieses großartige Häuschen direkt am Meer. Kein Internet und kein Fernsehen. Zweimal die Woche tauchte ein Typ mit einem Lieferwagen auf, um frischen Fisch zu bringen, und ich habe jeden Abend für uns gekocht. Emma hat sich während dieser Zeit in die Kinder von nebenan verliebt, und das war’s gewissermaßen. Erst wollte sie Kinder, dann wollten wir Kinder – und sind Kinder nicht das, was wir uns alle wünschen?«
    »Aber als Sie sich auf ein Baby einließen, wussten Sie vielleicht noch nicht, wie Sie sich damit fühlen würden.«
    »Ich habe nicht gewusst, dass ich mich dadurch so einsam fühlen würde.«
    Joshua war einsam. Mehr noch: Er war eifersüchtig auf die Nähe, die Frau und Sohn miteinander verband. Da er keine Möglichkeit sah, daran teilzunehmen, konnte Joshua auch seinen Platz als Vater nicht finden, eine Unfähigkeit, die für ihn war, als ob ihn seine Frau verließe. Was er fröhlich eine Dummheit genannt hatte, war in Wirklichkeit also ein Racheakt.

Je seriöser die Fassade, desto mehr ist zu verbergen
    Während ich an Bord der Maschine von New York nach San Francisco zu meinem Platz gehe, stelle ich fest, dass ich die Reihe mit einer attraktiven, gutgekleideten Frau teile. Sie sitzt am Fenster, ich am Gang, der Platz zwischen uns ist frei. Ich biete ihr an zu tauschen, damit ihre beiden Jungen mit Plätzen in der übernächsten Reihe neben ihr sitzen können. Sie lacht und sagt, ich hätte offenbar keine Kinder im Teenageralter: »Sie würden am liebsten noch viel weiter weg sitzen.«
    Sie will mehr über mich wissen, ich mehr über sie. Ich frage, ob sie in den Urlaub fliege. Nein, antwortet sie, sie sei auf dem Weg, ihre Mutter zu besuchen. Sie nestelt an ihrer Kette. »Der erste Besuch seit sechzehn Jahren – seit

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