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Die Frau, die nicht lieben wollte und andere wahre Geschichten über das Unbewusste (German Edition)

Die Frau, die nicht lieben wollte und andere wahre Geschichten über das Unbewusste (German Edition)

Titel: Die Frau, die nicht lieben wollte und andere wahre Geschichten über das Unbewusste (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen Grosz
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nachts vor Sehnsucht nach ihr geweint hatte. »Meine Eltern haben mir diese komische Geschichte erzählt, wie ich, als ich nach Hause kam, darauf beharrt hatte, meine Mum mit ›Lady‹ anzureden – ich wollte sie nicht ›Mummy‹ nennen.«
    Wenn ich Emma richtig verstand, schien das Selbstwertgefühl ihrer Eltern, ihr emotionales Gleichgewicht, davon abzuhängen, wie Emma sich benahm, wie gut sie war.
    Vorkommnisse in Emmas frühem Leben, die in einem Kind normalerweise Angst auslösten – der erste Tag im Kindergarten, zur Abholzeit vor der Schule vergessen werden, im Kaufhaus verlorengehen – schienen ihr überhaupt nichts ausgemacht zu haben. Ich hegte den Verdacht, dass Emma fürchtete, erneut fortgeschickt zu werden, wenn sie ihre Gefühle zuließ. Ihre Fähigkeit, sich den Wünschen der Eltern anzupassen, hatte die Entwicklung von Emmas beträchtlichem Intellekt nicht behindert, ihre emotionale Entwicklung aber aufgehalten.
    Als Emmas Doktorvater sie bat, sich zwischen zwei Forschungsgebieten zu entscheiden und ihm zu sagen, aus welchen Gründen sie das ausgesuchte Feld bevorzugte – brach Emma zusammen. Sie sollte eine Richtung wählen und hatte keinen Kompass, sie wusste nicht weiter.
    In der Stille des Therapiezimmers fragte Emma: »Was glauben Sie, warum mir jetzt die Karte an Miss King einfällt?«
    »Was meinen Sie denn?«
    »Ich weiß nicht. Das Gespräch mit meinem Dad war wie das Gespräch mit Mark – beide haben mir gesagt, was ich fühlte oder fühlen sollte.«
    Emma sagte, sie verstünde nicht, wie Leute wüssten, was sie tatsächlich fühlten. »Die meiste Zeit weiß ich nicht, was ich fühle. Ich stelle mir vor, was ich fühlen sollte und handle entsprechend.«
    Ich begann, Emma darauf aufmerksam zu machen, dass sie durchaus wusste, wo es zu suchen galt: in ihren Erinnerungen, ihren Träumen und Handlungen. Die Erinnerung an den Vater kam ihr, als wir uns über ihren Streit mit Mark unterhielten – die beiden Ereignisse schienen für sie zusammenzuhängen. Und indem sie mir erzählte, dass sie erneut zu spät zu einem Treffen mit Mark gekommen sei, signalisierte sie uns beiden, dass sie sich nicht besonders darauf freute, ihn wiederzusehen. Als ich meine Überlegungen erläutern wollte, begann Emma zu weinen.
    »Miss King«, schluchzte sie. »Miss King.«
    Später erzählte Emma, dass sie nicht wusste, warum sie die Erinnerung an jenen Morgen in der Küche so aufwühlte und gefühlsduselig machte. »Mum hasst Selbstmitleid«, fuhr sie fort. Ich sagte, ich sähe kein Selbstmitleid, nur Trauer. Sie schien mir um das Selbst zu weinen, das sie verloren hatte, um das kleine Mädchen, dem es nicht erlaubt worden war, Gefühle zu haben.

Warum Eltern ihre Kinder beneiden
    Vor einigen Jahren hatte ich eine Patientin, die ich Amira nennen will. Als Amira siebenundzwanzig Jahre alt war, hatte sie einen schweren Autounfall – ihr Wagen schleuderte auf den Mittelstreifen der Autobahn M1. Körperlich blieb sie unversehrt, emotional aber war sie ein Wrack.
    Zwei Jahre nach dem Unfall begann Amira, ihr Leben wieder in Ordnung zu bringen, doch fiel es ihr zunehmend schwer, ihrer Mutter davon zu erzählen, wie sehr sich ihr Leben wieder besserte. »Ich ertrage ihre ’Masha’Allahs’ einfach nicht mehr«, sagte Amira. » Masha’Allah heißt ›Gott will es so‹. Meine Mutter sagt es, sobald mir etwas Gutes widerfährt. Und sie sagt es, um den ›bösen Blick‹ abzuwehren – sagt es, um mich vor dem Neid der Menschen zu schützen –, und sie macht mich damit verrückt.«
    Amira beschrieb eine Unterhaltung mit ihrer Mutter über die Vorkehrungen, die sie und ihr Verlobter für die Hochzeitsreise getroffen hatten. »Ich sagte, wir hätten beschlossen, nach Paris zu fahren: ’Masha’Allah.’ Ich fing an, ihr das von uns ausgesuchte Hotel zu beschreiben, ’Masha’Allah’ , und versuchte, ihr von unserer Suite und unseren Plänen zu erzählen: ’Masha’Allah’, ’Masha’Allah,’ ’Masha’Allah.’ Am liebsten hätte ich das Handy aus dem Fenster geworfen«, berichtete Amira. »Mein Glück ist nicht allein Gottes Werk – zumindest für einen Teil davon bin ich selbst verantwortlich.«
    Mir schien, der Wunsch von Amiras Mutter, die Tochter vor dem Neid anderer Leute beschützen zu wollen, wurzelte in ihrem eigenen Neid. Amira fand diesen Gedanken überraschend, doch wurde ihr bald klar, dass ihre Mutter sich vermutlich nach einer anderen Zeit zurücksehnte. Einmal hatte sie

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