Die Frau, die nicht lieben wollte und andere wahre Geschichten über das Unbewusste (German Edition)
verabschiedete und in einem Flughafencafé ihre Hand hielt, kamen ihm die Tränen. Er musste daran denken, wie sie noch klein gewesen war und er vor ihrer Schlafzimmertür gestanden hatte, während sie ihrem Teddybär The Tale of Mrs Tiggy-Winkle vorzulesen versuchte. Doch die Erinnerung und sein Gefühl zärtlicher Trauer wichen bald wieder einer langen Reihe von Klagen – dass ihr Besuch zu kurz, ihr Abschiedsgeschenk so billig gewesen war. Und damit verlor er sie aufs Neue. Was ihm an Liebe für sein Kind geblieben war, besaß kaum eine Chance gegen die große Erzählung, die ihm der Neid geschrieben hatte.
Das Unmögliche wollen
Meine Patientin, eine berufstätige Frau mittleren Alters namens Rebecca, legte ihren Mantel ordentlich gefaltet über eine Stuhllehne und nahm auf der Couch Platz. Fünf Minuten lang blieb sie stumm. Dann sagte sie: »Wir werden heute über Sex reden müssen.«
Es war ein Montag. Seit einem Jahr kam Rebecca zu mir, seit dem Tod ihrer älteren Schwester. Die Intensität ihrer Gefühle von Verlust und Sorge hatten sie damals überrascht. Inzwischen hatten diese Gefühle nachgelassen, doch war sie sich jetzt ihrer Sterblichkeit viel deutlicher bewusst – »Ich lebe mein Leben nicht so aus, wie es möglich wäre«, erzählte sie, »nur weiß ich eigentlich nicht, was ich ändern möchte«. Die Beziehung zu ihrem Mann schien ihr besser zu sein, doch sorgte sie sich manchmal, mit ihm die falsche Wahl getroffen zu haben.
Rebecca und ihr Mann Tom waren am vergangenen Abend zu Hause geblieben – Sushi, ein Rest Champagner und eine DVD. Sie hatten gemeinsam gebadet und sich dann ausgiebig geliebt. »Ich hatte einen tollen Orgasmus«, sagte Rebecca. Normalerweise könne sie dann ruhig schlafen, doch sei sie diesmal um halb fünf wieder aufgewacht. Da sie nicht mehr einschlafen konnte, beschloss sie zu masturbieren. Gleich darauf sei sie erneut eingenickt und hatte, was sie einen »Sextraum« nannte.
Während unserer Sitzung versuchte sie, sich an den Traum zu erinnern. »Da war ein Mann, vielleicht ein Freund von früher, von der Universität: Er presste sich an mich«, sagte sie, »und hielt mich an der Hüfte fest, nein, tätschelte sie. Viel mehr weiß ich nicht, nur, dass er mich begehrte.« Mit einem Gefühl von Verlust sei sie aufgewacht.
»Man sollte doch meinen, Sex und Onanieren müssten genügen – was ist nur mit mir los?«
Wir redeten über die Tage vor dem Traum. Am Samstagabend hatte sie in einem Restaurant ihren fünfzigsten Geburtstag gefeiert. Die Eltern waren eigens aus Schottland angereist. Georgia und Anne, ihre Töchter, hatten bei der Vorbereitung geholfen und das Menü ausgesucht. Oliver, ihr Jüngster, sollte aus Sussex zu ihnen stoßen, wo er studierte, ließ sich aber nicht blicken. Rebeccas Mann hatte deshalb oft draußen vor dem Restaurant gestanden und versucht, Oliver auf dem Handy zu erreichen. »Den ganzen Abend haben wir ihm einen Platz freigehalten«, sagte sie, »und ich wusste nicht, ob ich wütend sein oder mir Sorgen machen sollte.«
Erst am nächsten Nachmittag gelang es ihr endlich mit Oliver zu sprechen. Er sagte, ihm sei in letzter Minute etwas Wichtiges dazwischengekommen, außerdem sei der Akku leer gewesen, weshalb er nicht anrufen konnte. Rebecca vermutete, er habe schlichtweg beschlossen, den Samstagabend mit Freunden zu verbringen. »Ehrlich gesagt, ich glaube, er hatte einfach keine Lust zu kommen«, sagte sie.
Für Rebeccas Mann schien der Abend im Restaurant das Gefühl der Entfremdung vom Sohn zu bestätigen. »Tom sagt, er warte nur auf irgendeine Katastrophe – darauf, dass die Polizei vor unserer Tür auftaucht«, sagte sie. Rebecca erinnerte sich an Olivers Draufgängertum, an seinen Eigensinn als Kind. Einmal, erzählte sie, sei er, als er noch sehr klein war, aus dem Haus gerannt, während sie ein Bad für ihn einließ. Sie hatte ihm am Nachmittag kein Eis gegeben, also war er über eine vielbefahrene Straße zum Zeitungskiosk gelaufen, um sich selbst eines zu holen.
Beim Zuhören kam mir der Gedanke, dass ihr sexuelles Verhalten eine Schutzmaßnahme war, eine Reaktion auf die Trauer, den Ärger und die Sorge, die der Sohn in ihr ausgelöst hatte. Ich vermutete, und sie gab mir recht, dass sie Sex als Antidepressivum gebrauchte, als ein Mittel, Furcht und innere Leere kurzfristig durch die Erregung des Begehrtwerdens zu ersetzen. Sie wies darauf hin, dass Sex ihr auch half, verstörende Gedanken zu verdrängen – etwa
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