Die Frau, die nicht lieben wollte und andere wahre Geschichten über das Unbewusste (German Edition)
Reise gehört zu jenen Augenblicken, in denen ich es wirklich hasse, alleinstehend zu sein. Ich öffne die Tür, und auf der Fußmatte liegt die Post der letzten zehn Tage, der Kühlschrank ist leer, das Haus kalt. Niemand hat gekocht, also riecht es irgendwie verlassen – einfach deprimierend.« Sie hielt inne. »Wenn ich als Kind von der Schule heimkam, war es ganz anders. Meine Mum oder das Kindermädchen – oder beide – waren da und machten mir etwas zu essen. Irgendwer hat immer auf mich gewartet.«
Beim Reden wurde deutlich, dass Amanda P.s flüchtige paranoide Phantasie – den Schlüssel umdrehen und von einem Terroristen in die Luft gejagt werden – keineswegs so verrückt war, wie sie befürchtet hatte. Einen Moment lang machte ihr diese Phantasie Angst, doch die Angst bewahrte sie letztlich vor dem Gefühl der Einsamkeit. Der Gedanke »jemand will mich umbringen« bedeutete, dass sie gehasst wurde – und nicht vergessen war. Sie existierte immerhin in den Gedanken des Terroristen. Ihre Paranoia schützte sie vor der Katastrophe der Gleichgültigkeit.
Vom Wiederfinden verlorener Gefühle
Als sie sechs Jahre alt und in der zweiten Klasse war, verliebte sich Emma F. in ihre Lehrerin Miss King. Miss King trug blitzende Kreolen und leuchtend roten Nagellack, und wie Emma begeisterte sie sich für Fossilien. Einmal gestand Emma ihr, dass sie Wilbur und Charlotte noch einmal ganz von vorn lese, woraufhin Miss King Emmas Hand drückte – es war auch eines ihrer Lieblingsbücher.
Am letzten Samstag im Schuljahr setzte Emma sich vor dem Frühstück an den Küchentisch, um Miss King eine Dankeschön-Karte zu schreiben. Sie malte ein Bild von einem Ammoniten auf die Vorderseite, klappte die Karte auf und schrieb: »Liebe Miss King, Sie sind die allerbeste Lehrerin. Vielen Dank dafür, dass Sie meine Lehrerin sind. Sie werden mir nächstes Jahr fehlen. Ich liebe Sie mehr als alle Menschen auf der Welt, sogar mehr als meine Mummy. In Liebe, Emma xxxxx.«
Als der Vater sich an den Tisch setzte, zeigte ihm Emma die Karte. »Du kannst nicht schreiben, dass du Miss King mehr liebst als Mummy«, sagte er, »das stimmt nicht.« Emma nahm den rosafarbenen Radiergummi aus ihrer Federmappe und begann, den letzten Satz auszuradieren. Ihr Vater hinderte sie daran. »Dann kann man immer noch lesen, was du geschrieben hast«, sagte er. »Du wirst eine neue Karte schreiben müssen.« Und weil er nicht wollte, dass auch nur eine Spur ihrer Worte übrig blieb, wusste Emma, dass sie etwas wirklich Schlimmes geschrieben hatte.
Emma hatte die Karte und das Gespräch mit ihrem Vater bald vergessen, doch während einer psychoanalytischen Sitzung dreiundzwanzig Jahre später erinnerte sie sich wieder daran.
An jenem Morgen hatte sich Emma auf einen Kaffee mit ihrem Freund Mark verabredet und war zu spät gekommen. Und kaum saßen sie sich gegenüber, begannen sie, sich über Emmas Beziehung zu ihrer Freundin Phoebe zu streiten. Mark beharrte darauf, dass es für Emma nicht gut sei, sich mit ihrer Freundin zu treffen; Phoebe sorge immer dafür, dass sie sich schlecht fühle.
»Er kapiert nicht, warum ich sie mag«, erzählte Emma mir später. »Er sagt, nach einem Treffen mit ihr sei ich immer so down.«
»Und? Sind Sie das?«, fragte ich.
»Mark behauptet es jedenfalls.«
»Ich habe nicht danach gefragt, was Mark glaubt. Ich versuche herauszufinden, wie Sie sich selbst fühlen.«
»Er wird schon recht haben – warum sollte er lügen?«
Und als ich darauf nicht unmittelbar antwortete, musste sie an Miss King denken. Ich behandelte Emma schon fast seit einem Jahr. Sie war gekommen, weil sie mit Beginn ihrer Doktorarbeit anfing, an einer akuten Depression zu leiden. Man verschrieb ihr ein Antidepressivum, und ihr Psychiater bat mich, mich ihrer anzunehmen, da sie ihm erzählt hatte, dass sie gern mit jemandem reden würde – »um die Mauer zu durchbrechen, die mich vom Leben trennt«.
Während unserer ersten Sitzungen beschrieb Emma ihre Kindheit als glücklich und normal, in den folgenden Monaten aber kam allmählich eine andere Geschichte zutage. Emmas Vater war oft unterwegs, die Mutter unsicher und unselbstständig. Sie stritten sich häufig. Kurz vor der Geburt ihrer Schwester wurde Emma nach Schottland zur Großmutter geschickt, bei der sie sechs oder sieben Monate blieb. Emotionslos beschrieb Emma ihre Rückkehr zu den Eltern und der kleinen Schwester und erzählte, wie sehr sie ihre Oma vermisst und
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