Die Frau, die nicht lieben wollte und andere wahre Geschichten über das Unbewusste (German Edition)
gegeben. Sollte diese Situation andauern und sollten die beiden weiterhin Bartleby und Anwalt spielen, wird ihre Geschichte einen ähnlichen Ausgang nehmen.
Als Sarah mir erzählte, dass sie sich dagegen entschieden hatte, mit Alex übers Wochenende fortzufahren, war ich versucht, sie umzustimmen. Wie alle Welt verfangen sich auch Analytiker in der Rolle des Anwalts, dabei ist es eigentlich unsere Aufgabe, eine nützliche Frage zu finden. Unsere Waffe gegen eine negative Einstellung sollte Verständnis und nicht der Versuch sein, jemanden umzustimmen. Warum diese Weigerung? Warum jetzt? Alex hatte nichts falsch gemacht, im Gegenteil, seit Sarah sich mit ihm traf, hatte sie ihn als einen aufmerksamen und vertrauenswürdigen Menschen schätzen gelernt. Die Veränderung hatte in ihr selbst stattgefunden.
Bewusst wollte Sarah jemanden kennenlernen und sich verlieben, unbewusst aber lief eine andere Geschichte ab. Sich verlieben hieß auf diesem tieferen Level, die Arbeit, ihre Freunde und sich selbst zu verlieren; Liebe bedeutete, innerlich leer zu werden, vernachlässigt und fremdbestimmt zu sein. Indem sie sich an frühere, recht schmerzliche Verluste und an jene tiefe Verzweiflung erinnerte, die mit dem Ende ihrer ersten Liebesbeziehung einhergegangen war, begannen Sarahs Weigerungen einen Sinn zu ergeben. Sie reagierte unwillkürlich negativ, da emotionale Hingabe und Bindung für sie einen Verlust und keinen Gewinn bedeuteten. Sarahs negative Einstellung war eine Reaktion auf ihre positiven, liebevollen Gefühle für Alex – es war ihre Reaktion auf die Aussicht, geliebt zu werden.
Wenn man seine Brieftasche verliert
Daniel K. begann vor kurzem seine Analysestunde mit folgender Geschichte:
Als er am Nachmittag zuvor daheim gewesen war, hatte sein Büroleiter angerufen, um gute Neuigkeiten mitzuteilen – mit seinem Entwurf für ein Museum in Chengdu, China, hatte Daniel eine größere Ausschreibung gewonnen. Er war in der engeren Auswahl der jüngste und unbekannteste Architekt gewesen, weshalb er nicht mit einem Erfolg gerechnet hatte. »Wir werden eine Menge Spaß haben und viel Geld verdienen«, sagte sein Büroleiter. Daniel war begeistert – er spürte, dies war der Durchbruch für seine kleine Firma, auf den er so lange gewartet hatte –, und gleich machte er mit seiner Frau aus, dass sie in einem Restaurant in West End feiern wollten.
Er beschloss, die U-Bahn zu nehmen. »Nachdem ich mich gesetzt hatte, holte ich meine Brieftasche heraus und steckte die Fahrkarte ein. Dann – und das verstehe ich einfach nicht – legte ich die Brieftasche auf den Platz neben mir. Ich dachte noch: ›Ist nicht gerade klug, sie dahin zu legen. Du wirst sie sicher vergessen.‹ An der ersten Haltestelle merkte ich dann, dass ich im falschen Zug saß, und hastete hinaus. Als die Türen zugingen, fiel mir die Brieftasche wieder ein. Aber es war zu spät – ich hatte sie auf dem Sitz liegenlassen. Ich rannte zu einem Bahnangestellten, und er rief in der nächsten Station an, aber meine Brieftasche war verschwunden. Ich fühlte mich grauenhaft – wirklich grauenhaft.«
Daniel schwieg einen Moment. »Ich ließ meine Kreditkarten sperren, eilte zum Restaurant, kam zu spät, und natürlich musste meine Frau zahlen. Der Verlust der Brieftasche hatte mir gründlich die Laune verdorben – ich fühlte mich entsetzlich. Und ich war auch noch selbst schuld – nur warum hatte ich es getan?«
Er fuhr fort. »Als wir das Restaurant verließen, erhielt ich eine SMS: ›Hab Ihre Brieftasche. Rufen Sie mich an, damit ich sie Ihnen zurückgeben kann.‹ Man sollte doch meinen, jetzt wäre ich erleichtert gewesen, oder? Die Brieftasche war gefunden worden, alles war wieder in Ordnung. Bloß fühlte ich mich kein bisschen erleichtert. Ich glaube, ich habe mich sogar noch schlechter als vorher gefühlt. Ich war völlig fertig und dachte, die Freude über den Gewinn der Ausschreibung habe ich mir gründlich verdorben.
Vor dem Restaurant tat ich dann wieder etwas Verrücktes. Kaum hatte ich die SMS gelesen, ertappte ich mich dabei, wie ich in all meinen Taschen nachsah, ob ich die Brieftasche nicht doch finden konnte. Ich wusste, dass jemand anderes sie hatte, trotzdem konnte ich nicht aufhören, danach zu suchen.«
Während ich Daniel zuhörte, fiel mir auf – Sie haben es sicher auch bemerkt –, wie für ihn Verlust auf Verlust folgt. Er verliert die Brieftasche, doch erst, nachdem er den richtigen Weg verloren hat (er
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