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Die Frau, die nicht lieben wollte und andere wahre Geschichten über das Unbewusste (German Edition)

Die Frau, die nicht lieben wollte und andere wahre Geschichten über das Unbewusste (German Edition)

Titel: Die Frau, die nicht lieben wollte und andere wahre Geschichten über das Unbewusste (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen Grosz
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sich ebenfalls darum, welche Auswirkungen sein Erfolg auf andere Menschen haben mochte. »Mir wurde ganz flau im Magen, als der Büroleiter sagte: ›Wir werden eine Menge Spaß haben und viel Geld verdienen.‹ Ich kam mir wie ein Hochstapler vor. Bin ich wirklich besser als die übrigen neun Architekten der engeren Auswahl? Das glaube ich nicht, und Sie werden es auch nicht glauben«, erzählte er.
    Daniel fürchtete die Verachtung seiner Kollegen. Der verlustreiche Abend bot ihm vermutlich eine Möglichkeit, sich wieder als Außenseiter zu fühlen, so als wollte er den Kollegen sagen: »Ich habe keinen Spaß, und ich habe mein Geld verloren – kein Grund also, mich zu beneiden.« Er hatte nicht bloß einer von mehreren Mitbewerbern sein wollen, aber letztlich schien ihm das vertrauter und sicherer, als der Gewinner zu sein.
    Nur warum hatte er noch nach seiner Brieftasche gesucht, als er bereits wusste, dass sie gefunden worden war?
    Die Arbeit an dem Projekt, für das mein Patient die Ausschreibung gewonnen hatte, würde es natürlich erfordern, dass er viel Zeit in Chengdu verbrachte, doch hasste er es, nicht zu Hause zu wohnen. Die Woche, die er zu Gesprächen nach China geflogen war, sei grässlich gewesen, sagte er. Das Hotel fand er »düster und deprimierend«. Und während seines Aufenthalts dort stellte er fest, dass er nur schlafen konnte, wenn ein Licht brannte. Während er mir davon erzählte, sah ich vor meinem inneren Auge einen kleinen Jungen, der ein Nachtlicht anknipst, nicht, weil er dann besser zu seinen Eltern findet, sondern weil er fürchtet, sie könnten ihn im Dunkeln vergessen – ihn verlieren.
    »›Die Höhlen von Krock‹«, sagte er plötzlich und meinte damit eine Geschichte von Dr. Seuss, vor der er sich als Kind gefürchtet hatte. Er zitierte eine Stelle: »Und du hast ja so ein riesen-, riesengroßes Glück, dass du keine Socke bist, die versehentlich in den Höhlen von Krock vergessen wurde! Dank dem Himmel für all das, was du nicht bist! Danke ihm dafür, dass du nicht was bist, das irgendwer vergessen hat.«
    Konnte es sein, dass ihn diese kleine Geste – die Taschen nach einer Brieftasche abklopfen, von der er wusste, dass sie verschwunden war – von einem anderen, furchterregenderen Gedanken abgelenkt hatte, nämlich dass er kurz davor stand, sich selbst zu verlieren? Vielleicht war die Suche nach der Brieftasche seine Art, ihm diese bestimmte Befürchtung zu nehmen. Besser, man hat etwas verloren, als dass man etwas oder jemand ist, der vergessen wurde.

Eine Veränderung in der Familie
    Vor etwa zwanzig Jahren hatte ich eine Patientin namens Emily. Sie war zehn Jahre alt und von ihren Eltern zu der Klinik gebracht worden, in der ich arbeitete, weil sie »Unfälle« hatte. Sie machte nachts ins Bett und versuchte eines Tages, eine schmutzige Unterhose die Toilette hinunterzuspülen, wodurch sie für eine Überschwemmung sorgte.
    Emily war das mittlere Kind; sie hatte einen älteren Bruder, Grant, zwölf Jahre alt, und einen jüngeren Bruder, noch ein Baby. Vor meiner ersten Begegnung mit Emily traf ich mich mit den Eltern, um mehr über die Familie zu erfahren. Sie erklärten, dass Emily ihnen Rätsel aufgebe. Grant sei ein Musterschüler, bei Emily konnte davon nicht die Rede sein. Sie sei »nicht besonders intelligent und ziemlich tollpatschig«, sagte die Mutter, »und bei Tisch macht sie immer eine Sauerei.« Als ich einwarf, der Kliniktest habe gezeigt, dass Emily über durchschnittliche Intelligenz und eine normale Feinmotorik verfüge, schauten die Eltern einander überrascht an. »Wir haben damit gerechnet, dass Sie uns sagen, sie sei Legasthenikerin oder so«, erwiderte Emilys Vater. Er beugte sich vor: »Wir wollen einfach nur, dass sie glücklich ist. Es macht nichts, wenn sie nicht so gut abschneidet wie ihr Bruder.« Wir vereinbarten, dass ich Emily jeden Morgen vor der Schule sehen sollte; und ohne sie wollten wir uns einmal im Monat treffen.
    Einige Tage später wurde Emily von ihrem Vater und ihrem Bruder zur Klinik gebracht. Vater und Sohn waren tadellos gekleidet – der Vater trug einen Anzug, der Sohn die Schuluniform. Emily dagegen bot einen ziemlich heillosen Anblick – das Haar ungekämmt, die Nase triefte. Sie saß da, ließ die Beine baumeln und starrte in ihren Schoß.
    Während unserer ersten Stunde malte Emily ein Bild von ihrer Familie. Als sie fertig war, machte ich sie darauf aufmerksam, dass sie Zac vergessen hatte, das Baby.

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