Die Frau, die nicht lieben wollte und andere wahre Geschichten über das Unbewusste (German Edition)
selbst ihre Chancen verbaut.
»Warum sind Sie nicht mitgefahren?«, frage ich. »Er bedrängt mich zu sehr«, antwortet Sarah, klingt aber nicht überzeugend. »Ich kann nur wiederholen, was ich ihm gesagt habe – ›Ich möchte lieber nicht.‹«
Sarahs Antwort verblüfft mich – sie kommt mir bekannt vor, nur weiß ich sie nicht einzuordnen. Dann fällt es mir ein. Es ist die Standardantwort einer literarischen Gestalt, nämlich die von Bartleby, dem Schreiber, jener titelgebenden Figur einer 1853 veröffentlichten Kurzgeschichte von Herman Melville. Der Protagonist ist so seltsam, dass sich nur schwer erklären lässt, was Melville seinen Lesern damit sagen will.
Die Geschichte wird von einem Anwalt erzählt, der in seine Kanzlei in der Wall Street einen Schreiber beziehungsweise einen Kopisten namens Bartleby aufnimmt. Bartleby arbeitet an einem kleinen Tisch hinter einem Wandschirm, das einzige Fenster weist auf eine Ziegelmauer. Immer öfter reagiert Bartleby auf die durchaus angemessenen Bitten des Anwalts mit den Worten: »Ich möchte lieber nicht« und stellt seine Tätigkeiten schließlich ganz ein. Während die übrigen Angestellten arbeiten, essen und trinken, starrt er nur stumm aus dem Fenster. Bartleby verlässt das Büro nicht mehr, und seine Anwesenheit wird so unmöglich, dass sich der Anwalt gezwungen sieht, die Praxis zu verlegen. Als auch die neuen Mieter der alten Büroräume die Spukgestalt Bartleby nicht loswerden können, kehrt der Anwalt zurück und versucht ein weiteres Mal zu helfen.
»›Bartleby‹, sagte ich, so freundlich ich es in meiner gegenwärtigen Erregung vermochte, ›wollen Sie mit mir nach Hause kommen – nicht in mein Büro, sondern zu mir in meine Wohnung? Und bei mir bleiben, bis wir uns in aller Ruhe und Gemütlichkeit auf einen passenden Ausweg geeinigt haben? Kommen Sie, wir wollen gleich zusammen losziehen!‹
›Nein, im Augenblick möchte ich mich lieber überhaupt nicht verändern.‹« [3]
Aufgebracht stürmt der Anwalt davon. Die Polizei lässt Bartleby in die als »Gräber« bekannte Strafanstalt bringen. Der Anwalt besucht ihn dort, doch weigert sich Bartleby, mit ihm zu reden oder auf seine Bitten, etwas zu essen, auch nur zu reagieren. Als der Anwalt einige Tage später wiederkommt, sieht er Bartleby in sich zusammengerollt an der Gefängniswand liegen, tot.
Eine negative Einstellung – diese »Ich möchte lieber nicht«-Haltung – entspricht dem Wunsch, der Welt den Rücken zuzukehren und sich normales Verlangen zu versagen. Wiederholt wendet sich auch Bartleby ab und starrt eine »Ziegelwand« an, »eine Feuermauer«, eine »leere Wand« oder die »Gefängniswand« – der Untertitel zu Bartleby lautet »Eine Geschichte der Wall Street«, der Mauerstraße also. Essbares ist stets ausreichend vorhanden – Melville hat selbst seine Mitarbeiter Turkey, also »Puter«, Ginger Nut (Pfeffernuss) und Nippers (Hummerzange) genannt, doch weigert sich Bartleby zu essen und hungert sich schließlich zu Tode.
Der Anwalt unternimmt mehrere Versuche, Bartleby aus seiner Zurückgezogenheit hervorzulocken, wie sich aber zeigt, ist es gar nicht so einfach, ihm zu helfen. Letzten Endes lässt die Geschichte sogar die düstere Erkenntnis zu, dass sich Bartlebys Lage gerade durch die Hilfe des Anwalts noch verschlimmert.
Ich verstehe Bartleby als ein Porträt des unablässigen Kampfes im Zentrum unserer Innenwelt. In jedem von uns stecken ein Anwalt und ein Bartleby. Wir haben alle in uns eine fröhliche Stimme, die sagt: »Fangen wir an, jetzt sofort«, aber auch die entgegengesetzte, negative Stimme, die erwidert: »Ich möchte lieber nicht.« Hält uns die Negativität in ihrem Griff, verlieren wir das Verlangen nach menschlicher Bindung. Wir werden zu Bartleby und machen jene, die uns nahestehen, zu Anwälten. Unbewusst veranlassen wir andere, vor uns unseren Fall zu vertreten.
Man denke beispielsweise an ein anorexisches Mädchen und seine Mutter. In der Weigerung des Teenagers, etwas zu sich zu nehmen, kann man Bartleby erkennen; aus dem nervösen Flehen der Mutter hören wir den Anwalt heraus. Wie Bartleby scheint sich die Magersüchtige nicht um ihre zunehmend schlechter werdende Lage zu sorgen. Ihre Sorge – also ihre Antriebskraft für eine mögliche Veränderung – hat sich zur Mutter verlagert. Wir hören zwei Menschen reden, nur findet kein Dialog statt – allein dem inneren Konflikt der Tochter wird durch zwei Stimmen Ausdruck
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