Die Frau im Tal
mir unbekanntes Notenblatt auf den Notenständer. Ich taste mich vor. Mit vorsichtigen Fingern. Dann atme ich tief durch und rufe W. Gude an.
Abschied vom Skoog-Haus
Der Journalist der Aftenposten kommt genau in dem Augenblick, als der Umzugswagen vor der Tür steht und das gesamte Inventar der Liljerots geholt wird. Cathrine hat sich gerade verabschiedet. Sie hat mir beim Packen geholfen, hat sich fast unbemerkt wieder in mein Leben geschlichen, wie das nur enge Familienmitglieder können, wenn sie spüren, daß Zuwendung gebraucht wird. Durch die großen Fenster des Wohnzimmers drängt sich eine gleißende Frühlingssonne. Der Waldboden ist übersät von Buschwindröschen. Der Journalist und ich nehmen auf denbeiden Corbusier-Stühlen Platz, während sechs kräftige Männer vom Christiania Transportbyrå den Flügel sorgsam in Decken packen.
Der Journalist ist einer von der seriösen Sorte. Er hat sich kundig gemacht und gelesen, was über mich bekannt ist. Er hat offenbar auch mit W. Gude gesprochen. Vielleicht auch mit Selma Lynge. Er weiß alles Wissenswerte.
»Du hast dich längere Zeit von der Konzertszene ferngehalten?« sagt er wohlwollend, den Block gezückt und mit einem Blick auf den Löffelköder, den ich zwischen den Fingern hin- und herschiebe.
»Eigentlich nicht«, sage ich. »Ich habe jede Woche für die Schüler der Internatsschule von Svanvik gespielt.«
Er nickt. Versucht, zu verstehen. »Aber nach solch einem überragenden Debüt hätte man vielleicht Konzerte in anderen Städten und im Ausland erwartet?«
»Sie haben mit W. Gude gesprochen, richtig?« sage ich freundlich. »Er hilft uns allen. Aber ich mußte einfach weg, aus verschiedenen Gründen. Und die Finnmarktournee werde ich nie vergessen.«
»In der Pressemitteilung steht, daß du dort oben im Norden warst, um das große c-Moll-Konzert von Rachmaninow einzustudieren? Warum hast du das Programm geändert? Wie kommt es, daß du nun statt dessen das A-Dur-Konzert von Mozart spielst?«
Ich überlege, was die strategisch klügste Antwort ist. Selma Lynge hätte in einer entsprechenden Situation sicher etwas von der inneren Logik der Musik gesagt, von dem unentdeckten Mozart oder was auch immer. Aber das will ich nicht. Nicht noch mehr Ausreden.
»Ich bin viel Ski gelaufen«, erwidere ich.
»Ski gelaufen?« Der Journalist schaut mich ungläubig an.
»Ja«, sage ich. »Ich will nicht in Einzelheiten gehen. Ich kann nur sagen, daß ich mir auf einer Skitour im Februar eine Verletzung zugezogen habe.«
»Dann ist Mozart eine Notlösung?«
»Nein«, sage ich überzeugt. »Mozart ist ein Durchbruch.«
Der Journalist schaut mich verwirrt an. »Läßt sich das näher erläutern?«
»Es gibt eine Zeit für Versöhnung«, sage ich schließlich, während die Männer vom Transportbyrå Anjas Flügel mit Hilfe von Gurten, die sie am Instrument befestigt haben, geübt durch die Tür und zum Wagen draußen bringen.
»Versöhnung?« fragt der Journalist. Er hat vergessen, sich auf dem Block Notizen zu machen, war mit den Augen bei den Umzugsleuten und dem gewaltigen Flügel.
»Ja«, sage ich. »Völlig im Augenblick sein zu können. Sich gut genug einzuschätzen, um die richtige Wahl zu treffen. Ich möchte nicht zu persönlich werden. Aber als ich W. Gude das erklärte, hatte ich das Gefühl, daß er mich versteht. Natürlich wäre es phantastisch gewesen, wenn ich Rachmaninow gespielt hätte. Aber um welchen Preis? Ein Freund hat einmal zu mir gesagt, daß es in jedem Leben eine Zeit für Mozart gibt. Das ist erst ein paar Monate her. Und ich habe nicht weiter darüber nachgedacht. Aber als ich nach diesen Monaten im hohen Norden zurück nach Oslo kam, begann ich darüber nachzudenken, daß diese Zeit für mich jetzt gekommen ist. Als ich endlich Mut faßte und mich wieder an den Flügel setzte und behutsam das A-Dur-Konzert zu spielen versuchte, entdeckte ich, wieviel mir diese Musik bedeutet. Vielleicht, weil sie eigentlich so zurückhaltend ist, so wenig insistierend, so versöhnt mit dem Leben, mit derFreude, aber auch mit der Trauer und allem, was verloren ist. Wie hat es mein Freund ausgedrückt? ›Durch Tränen lächeln‹.«
Der Journalist nickt und schreibt. Mir wird klar, daß es vieles gibt, was W. Gude ihm untersagt hat mich zu fragen.
»Für all das Schmerzliche einen Platz finden«, sage ich. »Ich begriff auf einmal, daß ich wieder lachen konnte. Die Musik setzte etwas in mir in Gang, brachte mich Schritt für Schritt
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