Die Frau im Tal
geglaubt hat.
Vielleicht will er mir etwas antun, denke ich und merke, daß ich müde werde, daß das Tempo unbarmherzig schnell ist, daß das keine freundliche Skitour ist, daß dieses schweigende Rennen Eiriks Art ist, mir zu sagen, wie er sich fühlt, daß ich in jedem Fall von seiner Kompetenz abhängig bin, daß er der Chef ist, solange er vor mir spurt, daß wir in die Dunkelheit kommen werden, daß der Rückmarsch im Dunkeln erfolgen wird, daß wir keinen Proviant mithaben.
Ständig kreuzen Tierspuren unseren Weg.
Eirik Kjosen stoppt ab und zu. Er versucht, nett zu sein, aber seine Stimme ist angestrengt. Er sagt dann: »Das ist ein Luchs. Das ist ein Elch.« Aber er redet nicht weiter.
Als wolle er eigentlich gar nicht mit mir reden und teile diese Beobachtungen aus reiner Höflichkeit mit. Ich denke wieder, daß er Grund genug hat, von mir enttäuscht zu sein. Er ist der Typ Mensch, der Erwartungen an anderehat. Wenn es stimmt, was mir Sigrun über ihre erste Zeit mit Eirik erzählte, war das, was sie beide verband, seine Erwartungen an sie und das gemeinsame Leben. Er hielt sie wie in einem Schraubstock, weil die Erwartungen so gewaltig waren.
Die Erwartungen, die er anfangs an mich hatte, waren natürlich viel kleiner, aber groß genug, daß ich sie spürte. Sein großes, breites Lächeln war das letzte, was verschwand. Sein Schweigen macht mir angst. Seine Schroffheit. Es hat jahrelang gedauert, bis er gelernt hat, seine dunklen Seiten zu verstecken.
Das hier ist seine Landschaft, denke ich. Hier ist er geboren. Von Kindesbeinen an weiß er, daß hier Raubtiere sind, daß der Birkenwald gefährlich sein kann. Er hat auch die Schönheit dieser Landschaft erlebt. Der Sommer und der Winter sind schön. Aber der Winter ist eisig kalt, und im Sommer gibt es Mücken. Was er mir aber zeigen will, ist nicht seine Landschaft, denke ich. Er will mir zeigen, daß er etwas weiß. Und das ist seine Art, es mir zu sagen. Weiß er, was ich mit Sigrun mache, wenn wir gespielt haben? Weiß er, daß sie und ich wahrscheinlich vertrauter miteinander sind, als er und sie jemals waren? Er weiß jedenfalls, daß er mir nicht trauen kann. Wer kann schon einem Pianisten trauen, der seine musikalische Ausbildung abgebrochen hat, der die unglaubliche Chance hat, mit der Osloer Philharmonie Rachmaninow zu spielen, aber keinen Lehrer mehr hat, sondern meint, dieses Konzert ohne jede fachliche Unterstützung einüben zu können, der meint, zu jeder Tageszeit Wodka trinken zu können. Er muß denken, daß ich mit alldem locker umgehe. Daß ich verantwortungslos bin. Daß meine Ehe mit Marianne ein Jugendstreich war. Daß meine Trauer aufgesetzt ist. Wenn ich mich in seine Gedanken hineindenke, wird mir angst.Da wird das Gewehr auf seinem Rücken mehr als ein Gewehr, es wird zur tödlichen Waffe. Der Rücken von Eirik Kjosen ist breit und stark. Ich spüre plötzlich, daß ich sehr erschöpft bin.
»Ich glaube, wir müssen umkehren!« rufe ich.
Er bleibt nicht einmal stehen, um zu antworten, und ruft nur zurück: »Wir sind bald bei der Bärenhöhle!«
Vielleicht sind da tatsächlich Bären, denke ich. Vielleicht will er mir zeigen, wie gut er ist im Kampf gegen Raubtiere? Ich bin ein einfacher Junge aus einem Vorort von Oslo. Ich kenne Pasvik nicht. Die Entfernungen sind enorm. Die Landschaft prägt die Menschen. Sie prägte Tanja Iversen und ermöglichte ihr, auszubrechen, etwas Wesentliches zu wagen, umfassend zu denken. Umfassender und schneller, als es mir jemals möglich sein wird.
Aber jetzt ist es kalt, die Füße sind steif, die Wimpern voller Eis. Wir müssen umkehren, wenn ich den Rückweg schaffen will.
»Ich kann nicht mehr!« rufe ich.
Da passiert es. Ich bin nicht auf den kurzen, steil abfallenden Hang vorbereitet. Und diesmal dreht sich Eirik um, will zurückrufen und verliert im selben Moment das Gleichgewicht. Er kippt nach rechts, und als er mit dem rechten Arm auf den Schnee trifft, dreht sich das Gewehr, ist zuerst auf mich gerichtet und dann auf ihn, auf seinen linken Oberschenkel. Da knallt ein Schuß.
Nächtliche Rückkehr
Viele Jahre später versuche ich mich zu erinnern. Was das für ein Gefühl war. Er liegt im Schnee und zuckt. Ich denkeerst, der Schuß habe mich getroffen, und bin vor Schreck wie gelähmt.
Ich bin sicher, daß er mich töten will, daß das nur eine Frage der Zeit ist. Aber gleichzeitig bin ich vorbereitet. Schließlich ist es noch kein Jahr her, daß ich mich töten
Weitere Kostenlose Bücher