Die Frau im Tal
daß ich kein Gefühl mehr in den Füßen habe, daß die Arme schmerzen, daß ich mir eigentlich wünsche, er sei tot und begraben.Die Stirnlampe beginnt zu blinken. Das Licht wird schwächer. Wie lange sind wir gegangen? Ich denke an die Unglücklichen, von denen man oft in der Zeitung liest. Die einen Steinwurf von der Hütte erfroren gefunden werden oder in zwei Meter Tiefe ertrunken sind.
Da denke ich den Gedanken. Ich denke ihn zum erstenmal.
Daß die Situation, in der ich mich jetzt befinde, von mir verursacht worden ist. Daß ich in diese gottverlassene Gegend gefahren bin, wo dieser Unfall passieren konnte. Daß ich ihn bewußt in die Enge getrieben habe.
Mein Kopf beginnt zu dröhnen. Ich weiß nicht, wie erschöpft ich bin. Ich denke nur, daß ich nicht auch noch ohnmächtig werden darf. Zurück nach Skogfoss! Ich bin auf einer Skitour. Ich ziehe einen sterbenden Mann hinter mir her. Mit jedem Meter, den ich gehe, scheint er schwerer zu werden.
Ich merke, daß ich langsamer gehe.
Aber jede kleine abschüssige Stelle verleiht mir neue Kräfte. Dann denke ich an Sigrun. Sie will nicht, daß er stirbt. Keiner von uns will, daß Eirik Kjosen stirbt.
»Wir sind bald da!« rufe ich ihm zu.
Und während ich das sage, verstehe ich plötzlich, was mich dazu getrieben hat herzukommen und Sigrun Liljerot zu erobern, ein Paar zu werden, damit es ein anderes Leben gibt als das der Trauer. So kann ich endlich stolz sein auf die Gefühle, mit denen ich sie überfallen habe, auf die Art, mit der ich sie umworben habe. So hat alles einen Sinn. Wie sollte sie einem Menschen widerstehen, der sie unermüdlich Monat für Monat mit seinen Gefühlen bombardiert.
Als ich endlich in der Ferne die spärlichen Lichter vonSkogfoss sehe, ist es, als wüßte ich zum erstenmal, daß der Kampf gewonnen ist. Denn es war ein Kampf. Wären wir Russen aus dem vorigen Jahrhundert gewesen, hätten wir uns zwischen den Birken mit Pistolen duelliert. Aber wir sind keine Russen. Und weil ich ihn hinter mir herziehe, ist er derjenige, der verloren hat. Aber der Verlierer ist so schwer. Er liegt auf den Skiern und ist so kalt, daß es ihm jetzt gutgeht, wie es allen gutgeht, die kurz vor dem Erfrieren sind. Man muß ihn nicht bemitleiden. Ich bin so erschöpft, daß ich beinahe umfalle, kurz vor dem Ziel. Aber als ich zwischen den Kiefern stehe und das Licht im Blockhaus sehe, weiß ich, daß Sigrun daheim ist, daß wir fast da sind. Ich kann ihn ihr großzügig überlassen. Ich kann sagen, daß er mein Geschenk an sie ist, daß sie mit ihm machen kann, was sie will.
Aufklärung am frühen Morgen
Sie öffnet die Tür, als ich klopfe. Ich sehe, daß sie geweint hat, weiß aber nicht, warum. Als sie mich erblickt, zuckt sie zurück.
»Was ist passiert?«
»Eirik ist auch da«, sage ich und trete zur Seite, daß sie ihn besser sehen kann.
Wir zerren ihn ins Blockhaus. Er liegt auf dem Fußboden. Leichenblaß im Gesicht, die Augen geschlossen. Die Eisperlen im Haar und am Anorak beginnen zu tauen.
Sie greift nach seinem Handgelenk. Legt den Daumen auf die Schlagader. Fühlt den Puls.
»Wir müssen so rasch wie möglich nach Kirkenes«, sagt sie kurz.Sie fährt den Lada. Eirik liegt bewußtlos auf dem Rücksitz. Ich sehe an ihrem Gesicht, daß sie getrunken hat, sage aber nichts.
»Er wollte mir die Bärenhöhle zeigen«, sage ich.
»Hab noch nie etwas von einer Bärenhöhle gehört«, sagt sie.
»Wir sind fast zwei Stunden gelaufen«, sage ich. »Dann ist er an einem Abhang gestürzt, und der Schuß löste sich.«
Als wir ins Krankenhaus kommen, hat sie die volle Kontrolle. Sie handelt professionell, so wie Anja und Marianne in einem bestimmten Stadium ihres Lebens professionell handelten. Sigrun beherrscht ihren Beruf perfekt. Der einzige Maßstab für ein erfolgreiches Leben, denke ich. Sie spricht mit dem diensthabenden Arzt, gibt ihm die nötigen Informationen für die Bluttransfusion. Eirik liegt auf einer Tragbahre. Bevor er in den OP geschoben wird, beugt sie sich über ihn und flüstert ihm etwas zu, obwohl sie weiß, daß er bewußtlos ist. Das rührt mich.
Als sie sich von der Tragbahre löst und mich anschaut, sehe ich die Ohnmacht in ihren Augen. Da wird mir klar, daß diese Geschichte mit mir und Eirik nicht die einzige ist. Sie kommt zu mir. Ich bin so müde, daß ich kaum aufrecht stehen kann. Beide Handgelenke schmerzen. Trotzdem will sie, daß ich sie in den Arm nehme. Und diesmal will sie uns nicht vor der Welt
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