Die Frau im Tal
wollte.
Da sehe ich das Blut.
Es tropft aus seinem Fuß, obwohl der Schuß den Oberschenkel getroffen hat.
Voller Panik schreie ich: »Du bist verletzt!«
Er sagt nichts, starrt mich nur an. Vielleicht hat er große Schmerzen. Vielleicht hat er noch nicht begriffen, was passiert ist.
»Du blutest«, sage ich.
Er bewegt die Lippen, als wolle er mir etwas sagen. Plötzlich sehe ich eine Art Lächeln. Gleich darauf fällt er in Ohnmacht. Offenbar hat er bereits viel Blut verloren. Ich denke, daß er vielleicht sterben wird, wenn es mir nicht gelingt, die Wunde zu versorgen.
Ich denke dasselbe, wie Gabriel Holst seinerzeit am Fluß gedacht haben wird, daß ich ihn, egal wie, retten muß.
Obwohl es einfacher für mich wäre, wenn er sterben würde.
Aber dieser Gedanke kommt später. Als erstes ist nur in meinem Kopf, daß ich ihn retten muß, um jeden Preis. Nach einigen Minuten erwacht er aus seiner Ohnmacht und starrt mich an. Er sagt immer noch nichts.
Mir ist klar, daß er etwas weiß, etwas fühlte, etwas entdeckte. Vielleicht haben er und Sigrun miteinander gesprochen. Aber hier draußen in der Wildnis hat es keinen Sinn, darüber zu reden. Er deutet auf eine Tasche seiner winddichten Hose. Ich öffne sie. Da hat er Verbandsmaterial.Eine Schere. Pflaster. Dinge für Erste Hilfe. Er hilft mir, die Skihose vorsichtig auszuziehen.
Er liegt ohne Hose im Schnee. Der Oberschenkel ist weiß und nackt. Die Wunde ist rot. Er schaut mich bittend an. Und ich verstehe, daß er Angst hat zu sterben. Ich ziehe meine Handschuhe aus und beginne mit den Rettungsmaßnahmen. Ich bin gleichzeitig wütend und panisch.
»Das Gewehr war geladen«, sage ich. »Und nicht gesichert.«
»Wilde Tiere können schnell kommen«, sagt er matt. »Du weißt nicht, wie das ist in dieser Gegend.«
»Es war unverantwortlich«, sage ich.
Er nickt, ist mit allem einverstanden, was ich sage.
Er hätte mich töten können, denke ich. Vielleicht hat er es sogar vorgehabt, bei der Bärenhöhle, falls eine solche existiert. Er müßte mich nicht einmal erschießen. Er könnte einfach umkehren und verschwinden. Ohne ihn hätte ich hier zwischen den windverblasenen Birken keine Chance. Die Spur, die wir getreten haben, wird bereits wieder verweht.
Ich blicke mich um. Es ist jetzt dunkel.
»Wo ist die Stirnlampe?«
Er antwortet nicht.
Da sehe ich, daß er wieder ohnmächtig geworden ist.
Das ist der Blutverlust, denke ich. Er hat sich in den Oberschenkel geschossen. Ein Amateur hat seine Wunde versorgt. Er wird nicht einmal stehen können.
Erst jetzt geht mir der Ernst der Lage auf.
Mein Kopf dröhnt. Er liegt immer noch mit einem entblößten Bein da. Plötzlich ein kleiner, erbärmlicher Mann. Ich ziehe ihm die Hose wieder an und versuche dabei denGedanken zu verscheuchen, daß ich ihn hier draußen liegenlassen könnte, daß ich mit der Stirnlampe schon zurück nach Skogfoss finden würde, daß die Spur nicht völlig verweht ist, daß ich glaubwürdig behaupten kann, ich hätte versucht, ihn zu retten, weil ich Hilfe holen wollte.
Aber das ist unmöglich. Er würde hier draußen erfrieren. Nur ein paar Stunden, und es wäre vorbei mit ihm. Und der Gedanke, den ich verscheuchen möchte, muß trotzdem gedacht werden. Daß Sigrun dann Witwe werden würde, so wie ich vor einem Jahr Witwer geworden bin. Daß die Trauer uns noch enger aneinanderbinden könnte. Und ich habe den Unfall nicht willentlich herbeigeführt. Eirik hat die ganze Vorarbeit geleistet. Es ist allein seine Schuld, daß er da liegt, bewußtlos im Schnee. Mich trifft keine Schuld. Als habe er beabsichtigt, mich fertigzumachen. Als habe er uns mit voller Absicht in eine Situation bringen wollen, in der nur der Stärkere überlebt.
Im Moment bin ich der Stärkere.
Das ist ungewohnt.
Ich löse die Stirnlampe von seiner Mütze und befestige sie an meiner.
Dann knipse ich sie an.
Sie wirft ein kräftiges, aber begrenztes Licht.
Wie lange werden die Batterien halten?
Ich stehe da und betrachte ihn. Und er weiß es nicht einmal. Eine dünne Membran, die wir Kultur oder Zivilisation nennen, hindert mich daran, ihn zu verlassen und in die Lüge zu schlittern, die mich später verfolgen würde: daß ich ging, um Hilfe zu holen, daß ich meinte, es gebe keine andere Möglichkeit.
Es gibt eine andere Möglichkeit.
Ihn den langen Weg zurück nach Skogfoss schleppen.Ihm die Skier ausziehen, seine Hand packen und ihn über den Schnee schleifen. Aber schaffe ich das?
Ich
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