Die Frau im Tal
offenbar unwohl.
»Tatsächlich?«
»Die Besprechungen sind ausgezeichnet«, sagt er, als würde er mir eine große Neuigkeit mitteilen. »Ich halte mich auf dem laufenden, so gut ich kann. Ich spiele selber. Täglich mindestens eine Dreiviertelstunde. Schumanns Fantasiestück ›Aufschwung‹ ist das Jahresziel. Kein ganz leichtes Stück, nicht wahr?«
Ich nicke. »Schwierig genug. Ein schönes Stück. Aber achten Sie darauf, es nicht zu schnell zu spielen.«
»Ach so?« sagt er und beugt sich über den Tisch. »Ist das wichtig?«
»Besonders, wenn man Schumann spielt«, sage ich. »Spielt man Schumann zu schnell, verschwindet das Ungestüme. Dann wirkt es nur gequält.«
»Bloß nicht. Aber das klingt plausibel. Hier spreche ich ohne Zweifel mit einem Experten. Gibst du auch Stunden?«
»Nein.«
»Aber ich brauche einen guten Klavierlehrer.«
»Davon gibt es genug. Ich kann Ihnen bei Gelegenheit ein paar Namen nennen.«
»Das wäre schön.«
»Als Gegenleistung müssen Sie mich jetzt rauslassen. Marianne wird am Donnerstag begraben. Bis dahin habe ich noch viel zu erledigen.«
Er nickt. »Wir werden sehen«, sagt er. »Bis zu einem gewissen Punkt kann die Entscheidung für den eigenen Tod eine Privatangelegenheit sein. Aber sobald dich die Ärzte in die Finger kriegen, ist das etwas anderes. Die Gesellschaft will, daß alle so lange wie möglich leben. Der Tod ist zu wichtig, um ihn Privatpersonen zu überlassen.«
»Ich will sowieso nicht sterben«, sage ich.
Gudvin Säffle beugt sich über den Tisch.
»Dann hilf mir, das zu glauben«, sagt er.
Ein Fisch an Land
Die folgenden zwei Tage und Nächte kontrollieren sie mich fast ununterbrochen. Sehen nach mir. Sprechen über mich. Geben mir Beruhigungsmittel. Nur kurzzeitig bin ich allein. Dann liege ich im Bett in meinem Zimmer. Dann sehe ich Marianne, die im Vorratskeller hängt. Dann überkommt mich das Schuldgefühl. Säffle hat recht. Warum habe ich nicht den Strick gewählt? Warum nicht die Rasierklinge? Warum nicht Tabletten? Sie muß sich so sicher gewesen sein, daß das, was sie tat, richtig war. Und ich habe nichts begriffen, saß am Flügel, benebelt von meinem Spiel, besessen von meinem Debüt. Wie lange hat das Kind noch in ihrem Körper gelebt? Ich liege im Bett in meinem Zimmer und höre, daß auf der anderen Seite der Wand jemand schreit.Ich treffe andere Patienten im Raucherzimmer. Wir sind von Aufsehern umgeben. Sie lassen uns in Frieden. Ich bin jetzt einer von ihnen. Einer von denen, die es gemacht haben. Jedenfalls versucht haben. In einer Ecke sitzt ein junges Mädchen und raucht selbstgedrehte Zigaretten, wie Marianne. Sie trägt ein kurzärmeliges, rosa T-Shirt. An jedem Handgelenk hat sie einen Verband. Aber sie ist noch an anderen Stellen aufgeschürft, am Hals und entlang der Adern am linken Arm. Egal, wohin sie blickt, sie nimmt keinen von uns wahr.
Ein dickes, etwa zwanzigjähriges Mamasöhnchen mit glänzend fettigem Haar, blauem Blazer und schwarzer, fleckiger Hose sitzt da und raucht Filterzigaretten. Auf den Knien liegt aufgeschlagen ein Buch. William Golding, Herr der Fliegen . Aber er hat seit mehreren Minuten nicht darin gelesen, und wenn er es versucht, vergehen nur wenige Sekunden, und er blickt wieder auf, starrt auf das Bild an der Wand, ein wettergegerbter Fischer, gemalt von Christian Krohg, und sucht darauf ein Detail, das keiner von uns anderen sieht. »Verflucht, der konnte malen«, sagt er wieder und wieder.
Dann ist da der kaputte Typ mit Muskeln und Tätowierungen. Er will mit einem unserer Aufseher ein Gespräch über das Wetter beginnen. Für mich sind alle Aufseher, auch die junge Frau mit dem weichen und fast wehrlosen Blick, die aussieht, als könnte sie jederzeit ihren weißen Kittel ausziehen und eine Zigarette mit uns rauchen.
Ich rauche Pall Mall mit Filter, breche aber den Filter ab, wie mir Marianne geraten hatte. Ich betrachte die Patienten um mich herum und denke, daß wir alle hier den Wunsch haben, uns zu Tode zu rauchen, leicht und unsichtbar zu werden wie der Rauch, frei wie der Rauch, uns wegzupusten von uns und den Geschichten, die unshergebracht haben. Vielleicht ist meine Geschichte die schlimmste. Trotzdem fühle ich mich hier nur als Gast.
Manchmal gehe ich zu dem großen Fenster mit der Aussicht auf den Kindergarten. Da steht ein kleines Mädchen am Klettergerüst und weint. Keiner von den Erwachsenen bemerkt es. Ich will das Fenster öffnen, aber es läßt sich nicht öffnen.
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