Die Frau im Tal
Sie steht da mit einer Schaufel in der Hand. Ein paar Jungs haben sie mit Sand beworfen. Jetzt kommen sie wieder, ihre Eimer voll Sand. Wie alt mag sie sein? denke ich. Was versteht sie von dem, was gerade geschieht? Denkt sie an ihre Mama und ihren Papa? Fühlt sie sich allein? Hat sie Angst? Ich merke, daß diese Gefühle gefährlich sind. Ich darf nicht zu weinen anfangen. Das muß ich von mir wegschieben. Vielleicht für immer. Nicht daran denken, daß ich Vater war. Keine Empfindungen. Keine Sehnsüchte nach etwas, das ich nie gesehen habe und nie sehen werde.
Träume ich? Oder ist es wirklich W. Gude, der mich besucht, im sommerlichen Burberry-Mantel, auf dem Kopf die Mütze mit dem Schottenkaro und die Stummelpfeife im Mund. Er küßt mich schmatzend auf die Wange, so als sei ich sein erstgeborener Sohn.
»Nichts sagen«, sagt er. Die Worte kommen wie Geifer aus seinem Mund. »Keine Angst. Niemand weiß, daß ich hier bin.«
»Weißt du, was Marianne sagte?« frage ich. »Das Leben ist in den Augen der Toten. Eine Intensität im Blick, wie du es bei keinem lebenden Menschen findest. Hast du das gesehen, Gude? Erinnerst du dich, als man sie abschnitt?«
»Ach, mein Junge. Wir sollten fähig sein, diese Verzweiflung abzuschütteln. Selma Lynge weiß noch nichts. DieWelt weiß auch noch nichts. Du wirst jetzt zum Mythos. Nach einem Erfolg zu verschwinden kann nie schaden. Schlimmer wäre es, wenn du vor einem Reinfall davonlaufen würdest.«
»Was weißt du über meinen Zustand?«
»Die Ärzte sind Musikliebhaber, mein Lieber. Die Schweigepflicht, von der sie reden, halten sie niemals durch. Überall im Krankenhaus wird über dich getuschelt und gemunkelt. Du trauerst um deine verstorbene Frau. Müssen wir das vertiefen? Ich möchte über die Zukunft reden, mein Junge, über all das, was vor dir liegt. Große Künstler brauchen Tragödien. Du bist ein großer Künstler, deshalb mußt du mit Schicksalsschlägen rechnen. Und vergiß nicht, du wirst nun mit den hervorragendsten Orchestern spielen. Arbeit ist die beste Therapie. Die Zeit heilt alle Wunden, und die ganze Welt wartet.«
»Wartet worauf?«
»Daß du Rachmaninow spielst, wie er noch nie gespielt wurde. Hast du dir die alten Aufnahmen mit dem Meister persönlich angehört? Eine pathetische, hohle Virtuosität. Als wolle er mit den federleichten Klangkaskaden Insekten imitieren oder das Geräusch von perlendem Champagner. Er begriff selbst nicht, welchen Geniestreich er vollbracht hatte. Ebensowenig begreifst du, wie bedeutend du geworden bist. Deshalb werde ich dich künftig nicht mehr in Ruhe lassen. Ich weiß, wann ich ein Talent am Haken habe.«
»Bitte nicht diesen Ausdruck.«
»Habe ich etwas Falsches gesagt? Ich werde dich jetzt im Sommer nicht weiter belästigen. Aber dann …«
»Welches Konzert von Rachmaninow?«
»Nummer zwei.«
»Um Himmels willen. Warum das?«
»Weil es zu Tode gespielt ist. Weil du und sonst keiner es neu beleben kann. Weil er es in einem Zustand tiefer Depression und psychischer Labilität komponierte. Wußtest du, daß er es seinem Psychiater Nicolai Dahl widmete?«
»Mein Psychiater heißt Gudvin Säffle. Ich glaube nicht, daß er ein Konzert verdient.«
»Mach einfach nur, was ich dir sage, mein Junge. Dann wird alles gut.«
Ich schlafe ständig ein, um dann jäh wieder zu erwachen. Das kommt von den Medikamenten. Ich weiß, daß man mich in der geschlossenen Abteilung festhält, was aber ohne Zustimmung der Angehörigen nicht erlaubt ist. Aber wer sind die Angehörigen? Vater, der genug mit seiner neuen Liebe in Sunnmøre zu tun hat? Meine Schwester Cathrine, die eben von einer Weltreise zurückgekehrt ist und sich noch nicht bei mir gemeldet hat, obwohl ich sie vorigen Mittwoch bei meinem Debütkonzert im Publikum gesehen habe. Ganz offensichtlich folgt Gudvin Säffle einer Art Therapieplan, zugeschnitten auf solche wie mich. Säffle will meinen Vater benachrichtigen, aber ich schreie ihn an, dazu hat er kein Recht. Er sagt, er müsse feststellen, wer zu meinem sozialen Netz gehört, aber ich gebe ihm nur einen Namen: Rebecca Frost.
Ein paar Stunden später sitzt sie plötzlich neben mir, auf dem Stuhl in meinem Zimmer und streichelt meine Hand, starrt mich mit ihren blauen Augen an, die bei mir früher immer unanständige Gedanken hervorgerufen haben.
Ich zeige ihr den Löffelköder.
»Ein falscher kleiner Fisch«, sage ich. »Häßlich auch noch. Aber er hat mein Leben gerettet.«
»Was war das
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