Die Frau im Tal
höre ich gleichsam das Echo der Auseinandersetzungen zwischen Mutter und Vater. Wo Mutter sich aufhielt, war immer Unruhe. Ihre Sehnsucht nach einem anderen Leben war so intensiv, daß man in ihrer Nähe nie an ein vollkommenes Glück glauben konnte. Ein einziges falsch klingendes Wort, und es war geschehen. Vielleicht habe ich das nach ihrem Verschwinden am meisten vermißt – die Momente, die etwas bedeuteten, daß das Leben, egal ob am Dienstag oder am Donnerstag, heiliger Ernst war. Mutter ertrug die Halbherzigkeit nicht, die Vater ihr mit seinen amateurhaften und unrealistischen Projekten bot. Mutter ertrug keine Lügen und Oberflächlichkeiten. Ebenso wenig wie Anja und Marianne. Jede verhielt sich auf ihre Art realistisch gegenüber der Wirklichkeit. Aber die Forderungen waren unrealistisch. Das machte sie ehrgeizig und verletzlich. Deshalb zogen sie mich an. Deshalb ging ich beinahe mit ihnen zugrunde.
Ich liege im Bett und weiß, daß ich meinen Psychiater beleidigt habe. Ist es das Unterbewußtsein, das mir sagt, daß ich das Krankenhaus gar nicht verlassen will? Daß ich am liebsten weiterhin mit den andern Patienten im Raucherzimmer sitzen möchte. Daß ich immer noch Tabletten brauche und die Betäubung? Daß es viel zu bedrohlich ist, wieder allein den Alltag bewältigen zu müssen? Marianne, die im Kellerraum hing. Die Hand, die ich auf ihren Bauch legte. Spürte ich wirklich ein Strampeln? War ihr Bauch noch warm? Hätte man das Kind noch retten können? Meine hysterische Stimme dort unten zwischen den Betonmauern. Und überall Feuerwehr und Polizei.
Am Morgen erwache ich schweißgebadet. Professionelle Pflegerinnen kommen und wollen mir bei der Morgentoilette behilflich sein, aber ich möchte es jetzt selbst können, will eine Stärke zeigen, die ich nicht habe. Sie lächeln und streichen mir übers Haar. Sie sagen, daß nun alles gut werden wird.
Plötzlich steht Gudvin Säffle in meinem Zimmer. Überrascht stelle ich fest, daß ich ihn noch nie stehend gesehen habe. Bisher hatte er immer hinter seinem Schreibtisch gesessen.
»Wir entlassen dich«, sagt er.
»Oho. Ihr vertraut mir also?«
»Ein Mensch, der versucht hat, sich das Leben zu nehmen, wird immer wieder dazu imstande sein. Vieles von dem, was du gesagt hast, bestärkt mich in der Überzeugung, daß du das Leben willst, trotz allem.«
»Marianne wollte es auch.«
»Es ist nicht nett von dir, mir die Sache schwerzumachen. Außerdem kann ich dich hier gar nicht festhalten, rein juristisch. Ich bitte dich nur dringend, die Tabletten, die ich dir verschrieben habe, weiterhin zu nehmen.«
»Helfen sie mir?«
»Glaubst du, Marianne hätten sie helfen können?«
»Das weißt du genau. Hätte sie die Tabletten genommen, wäre alles anders gewesen.«
»Genau.«
»Aber sie nahm sie nicht. Weil die Trauer die Toten am Leben erhält.«
»Du bist ein sturer Kerl, Aksel Vinding.«
Aber er läßt mich gehen. Er läßt es zu, daß ich zurückkehre in Mariannes Haus. Er konnte mich nicht länger festhalten. Ich habe die Tests gemacht. Wir haben überSchumann geredet und über das Leben am Grund des Flusses. Ich habe Fragen beantwortet und spaltenweise Kreuzchen gemacht. Gudvin Säffle weiß jetzt viel über mich. Ich bin nicht suizidgefährdet. Ich habe nur versucht, mir das Leben zu nehmen. Er meint, ich hätte in einem Anfall von geistiger Verwirrung gehandelt. Wir haben immer noch Juni. Sommer 1971. Der Flieder ist abgeblüht, und jetzt kommt all das andere. Die Margeriten und die Geranien. Die Lobelien und die Chrysanthemen. Hohe Rosen an Mauern. Die Farbenpracht des Lebens. Sonnenschein bis spätabends. Es ist so traurig.
Mariannes Haus gleich hinter der Kurve liegt da wie immer. Das Taxi passiert die Stelle, an der ich, jedesmal wenn ich Anja nach Hause begleitete, stehenbleiben mußte. Der Wagen hält vor dem vertrauten Tor. Die Krankenschwester neben mir ist von der ruhigen Art. Sie sagt nicht viel.
»Ich muß mitkommen ins Haus«, sagt sie trotzdem und bittet den Fahrer zu warten.
»Warum?«
»Weil es mir im Krankenhaus aufgetragen wurde.«
»Nachsehen, ob Tabletten vorhanden sind?«
Sie errötet und wendet sich ab.
»Bitte frag nicht.«
»Und was ist mit Rasierklingen? Mit den scharfen Messern in der Küche? Mit dem Strick im Keller? Der schon einmal benutzt worden ist?«
»Hör auf …«
Sie schaut mich bittend an, sie ist nur ein paar Jahre älter als ich. Langes, blondes Haar. Dem Dialekt nach aus dem
Weitere Kostenlose Bücher