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Die Frau in Rot: Roman (German Edition)

Die Frau in Rot: Roman (German Edition)

Titel: Die Frau in Rot: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Margot S. Baumann
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geholt hatte, der ab und zu freundlich zu ihm war: Gerold von Hallwyl, seinen Vater. Wie dieser ihm befohlen hatte, das Gewehr aus Johannes’ Kammer zu holen. Wie Huldrich sich geweigert hatte und dafür Prügel einstecken musste. Wie Gerold auf die Herrin hatte schießen wollen, diese aber einfach in der Tiefe verschwunden war. Mit einem Lächeln auf dem Gesicht. Wie sie anschließend ihre Leiche beim Brestenberg auf dem Grund des Brunnens in der Halle versteckt und wie Gerold daraufhin alle Hinweise auf Bernhardines Existenz vernichtet hatte.
    »Wie ich schon vermutet habe«, sagte Anouk aufgewühlt, »waren die Krähen Boten des Bösen und Gerolds Helfer. Diese Viecher sind mir immer unheimlich gewesen. Erinnere dich nur an unseren Unfall. Huldrich schrieb in seinen Aufzeichnungen auch, dass er als kleiner Junge ein Krähenjäger gewesen ist, später aber – um seinem Vater zu gefallen – damit aufgehört hat. Und doch konnte er es seinem blaublütigen Erzeuger nie recht machen, der arme Kerl.«
    Anouk schluckte. Auch Max schien erschüttert. Er schüttelte immer wieder den Kopf.
    »Kein Zehnjähriger sollte so etwas erleben«, sagte er schließlich. »Ich muss mal an die frische Luft und etwas trinken, entschuldige.« Er stand auf. »Begleitest du mich?«
    Sie zeigte auf ihr Kostüm, und Max nickte verstehend. »In Ordnung, dann also bis gleich.«
    Er trat in die Nacht hinaus, und Anouk beeilte sich, aus der Berta-Tracht herauszukommen. Sie hängte das Kleid auf den Ständer, kontrollierte im Spiegel ihre Frisur und stand auf. Sie sah sich um. In diesem Raum hatte vielleicht Bernhardines Geliebter gewohnt. Nach Max’ Worten waren diese Räume den niedrigeren Gästen vorbehalten gewesen.
    »Hier irgendwo hast du also ihr Porträt gemalt«, sagte sie in den leeren Raum hinein. »Wieso nur hast du es versteckt?« Sie hatte nicht wirklich mit einer Antwort gerechnet, aber die Stille verursachte ihr einen Stich der Enttäuschung. Draußen hörte sie Gelächter. Sie beeilte sich, griff nach ihrer Handtasche und verließ die Garderobe, die nach Schminke und Erfolg roch.
    Die leeren Sitzreihen lagen im Dunkeln, als sie an ihnen vorbei auf den Ausgang zusteuerte. Sie konnte nicht umhin, einen Moment stehen zu bleiben und zu den Zinnen hochzusehen. Über den Brustwehren ging eben der Mond auf und tauchte das Schloss in ein silbernes Licht. Eine fantastische Nacht. Wie gemacht für Liebende. Anouk lächelte und freute sich auf Max und auf die nächsten Stunden, die sie miteinander verbringen würden.
    Plötzlich gewahrte sie aus dem Augenwinkel eine Bewegung. Sie drehte sich zur Brücke, die zum Palas führte. Und da war sie! Bernhardine von Hallwyl. Ihre Urahnin. In demselben roten Kleid, das sie auf den Bildern getragen hatte und in dem sie auch gestorben war. Neben ihr stand Désirée in ihrem weißen Flatterhemdchen. Sie zeigte auf Anouk und blickte zu ihrer Mutter hoch. Diese nickte und lächelte.
    Anouk starrte die beiden an. Sie hätte so gerne etwas zu ihnen gesagt. Doch ihr Hals war wie zugeschnürt. Sie konnte sie nur anschauen; sah, wie Bernhardine nach etwas griff, das um ihren Hals hing, es an ihre Lippen führte und küsste. Anouk keuchte. Der Perlenanhänger! Ihr Perlenanhänger!
    Plötzlich ging das Schlosstor auf. Der Pförtner holte etwas aus seinem Häuschen. Anouk hatte nur kurz den Kopf nach ihm gedreht, doch als sie jetzt wieder zur Brücke blickte, sah sie, wie sich die Silhouetten von Bernhardine und Désirée langsam auflösten.
    »Nein!«, schrie sie. »Bleibt!«
    Doch Bernhardine schüttelte nur leicht den Kopf. Sie wurde immer durchsichtiger wie ein Morgennebel, der im Sonnenlicht verschwindet. Dann nahm sie Désirée auf den Arm, und beide winkten ihr zu. Automatisch hob Anouk ihre Hand. Bernhardine wandte sich um und ging auf den Palas zu. Als die beiden schon fast nicht mehr zu sehen waren, materialisierte sich neben ihnen auf einmal eine dritte Gestalt. Ein Mann mit struppigem Haar und einem gütigen Gesicht. Er kam Anouk irgendwie bekannt vor. Erst als er Bernhardine und Désirée folgte, bemerkte sie, dass ihm ein Arm fehlte.

Anmerkungen
    Zum historischen Hintergrund
    B ernhardine und Johannes von Hallwyl sind die einzigen Personen in meinem Roman, die historisch verbürgt sind. Alle anderen Charaktere wie auch die Geschichte um das Ehepaar und seine Kinder sind frei erfunden.
    Bernhardine Elisabetha von Diessbach von Liebisdorf (1728–1779) heiratete aber mit sechzehn Jahren

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