Die Frau in Rot: Roman (German Edition)
worden war. Die Agentur hatte ihr den Vertrag gekündigt. Man sehe sich außerstande, weiterhin ihre Interessen wahrzunehmen, wenn sie nicht disponibel sei. Adieu, du schöne Glitzerwelt! Doch komischerweise war sie über die Kündigung eher erfreut als bestürzt gewesen. Sie konnte sich nach diesem Sommer nicht mehr vorstellen, in ihr altes Leben zurückzukehren. Max lebte hier, und sie wollte keine Fernbeziehung führen. Er war ihr zu wichtig geworden, als dass sie ihn immer nur für ein paar Stunden zwischen zwei Shootings zu Gesicht bekommen wollte. Keine Liebe hielt das lange aus. Und Tati brauchte sie ebenfalls. Vielleicht war es sogar möglich, Valeries Heimaufenthalt auf später zu verschieben. Schließlich war ihre Großtante weit weniger verrückt als viele sogenannte normale Leute.
Anouk selbst hatte Lust bekommen, wieder die Schulbank zu drücken und vielleicht ein Studium der Psychologie in Angriff zu nehmen. In diesem Fach verfügte sie ja nun schon über einige Erfahrungswerte, und die Aussicht, in Zukunft anderen Menschen bei ihren Problemen Hilfe anbieten zu können, lockte sie. Ihre Schuldgefühle wegen Julias Tod hatte Anouk zwar immer noch nicht ganz überwunden, aber sie lähmten sie längst nicht mehr so stark wie zu Beginn ihres Aufenthalts in Seengen. Die Zeit würde ihr dabei helfen, besser mit ihnen umzugehen, und irgendwann würde sie sich vielleicht sogar vergeben können. Sie machte sich also völlig unnötig Sorgen. Sie würde gleich eine fabelhafte Berta abgeben und einer aufregenden Zukunft entgegensehen. Mit Max an ihrer Seite. Die Theaterglocke bimmelte. Das Gemurmel der Zuschauer erstarb, und auf der Bühne brachten sich die Schauspieler für den ersten Akt in Stellung. Anouk huschte hinter die Kulissen und wartete auf ihren Auftritt.
»Was?« Max wurde bleich, als der junge Mann hilflos die Schultern hochzog. »Defekt? Das darf doch wohl nicht wahr sein! Gut, dann muss es eben mit nur einem Scheinwerfer gehen.«
Eben noch hatte er Anouk den hoch erhobenen Daumen gezeigt, und nun das. Hoffentlich war das das Einzige, was heute Abend schiefging. Er lächelte bei dem Gedanken, wie nervös Anouk gerade noch gewesen war. Erstaunlich, wenn man bedachte, welchen Job sie ausübte und was für Abenteuer sie gemeinsam durchgestanden hatten. Aber er hatte keinerlei Zweifel daran, dass sie ihre Rolle tadellos spielen würde. Wenn er an ihren Auftritt im Polizeirevier dachte, musste er immer noch grinsen. Sie war tatsächlich eine erstaunliche Frau! Kein Wunder also, dass er sich so heftig in sie verliebt hatte. Verliebt? Nein, das Wort war zu schwach, um die Gefühle zu beschreiben, die er für sie empfand. Ihre gemeinsame Zukunft lag wie ein Versprechen vor ihnen. Ein Versprechen, das sie sich wortlos gegeben hatten. Er war sich sicher, dass sie gemeinsam jedem Problem trotzen konnten, was auch immer geschah. Die medizinischen Sachbücher hatte Max in die Bibliothek zurückgebracht. Er brauchte sie nicht mehr, genauso wenig, wie Anouk einen Spezialisten brauchte. Sie war weder verrückt, noch litt sie an einem Unfallsyndrom. Sie war einfach, ja, was denn nun? Max zog amüsiert einen Mundwinkel hoch. Sie war … eben Anouk!
Das Bimmeln der Theaterglocke enthob ihn jeder weiteren Überlegung. Er nickte den Schauspielern auf der Bühne aufmunternd zu, und das Stück begann.
»So gehe denn hin, Geliebter.«
Die Lichter erloschen, frenetischer Applaus brandete auf. Das Publikum erhob sich und klatschte sich die Hände wund. Brigitte verbeugte sich lächelnd, streckte ihre linke Hand aus, und Nick kam zu ihr gelaufen. Er verneigte sich ebenfalls, und der Applaus wurde um eine Spur intensiver. Nun streckte die Bibliothekarin ihren rechten Arm aus, und Peter, ihr Ehemann im Stück, eilte an ihre Seite. Die drei gaben sich die Hände, traten vor und verbeugten sich erneut.
»Jetzt!«, befahl eine Stimme hinter Anouk, und sie wurde auf die Bühne geschoben. Das ganze Ensemble lief in die Mitte, stellte sich in einer Reihe auf, lächelte, verbeugte sich, lächelte wieder, verbeugte sich erneut. Anouk sah nur blendendes, weißes Licht. Dahinter eine Mauer klatschender Hände. Sie hatten es geschafft! Das Stück war ein voller Erfolg. Dann drehten sich alle Darsteller nach links und applaudierten Max, der auf die Bühne gehumpelt kam. Pfiffe und Bravo-Rufe ertönten, und Anouk schossen die Tränen in die Augen. Sie war so stolz auf ihn. Am liebsten wäre sie zu ihm geeilt, um ihn zu küssen.
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