Die Frau in Schwarz
unverblümten Frage mehr stecke. Schließlich antwortete er: »Nein. Zumindest … nicht hier. Nicht auf diesem Friedhof.«
»Woanders?«
»Sie wird nicht mehr benutzt«, erwiderte er nach einiger Überlegung. »Die Anlage ist ungeeignet.«
»Ich fürchte, ich verstehe nicht ganz …«, begann ich, bemerkte dann aber, dass wir die Kirche erreicht hatten, zu der man durch ein schmiedeeisernes Tor zwischen zwei überhängenden Eiben auf einem langen, schnurgeraden Kiesweg gelangte. Zu beiden Seiten und auf einem weiten Gebiet rechter Hand standen die Grabsteine, während sich ein Stück linker Hand einige Gebäude befanden, die wahrscheinlich das Leichenhaus und die Schule waren, an deren Eingang eine Glocke hing und aus der Kinderstimmen erklangen.
Ich musste mich mit meiner unbefriedigten Neugier über die Familie Drablow und ihre Grabstätte gedulden, und, wie Mr. Jerome, eine Trauermiene aufsetzen, während wir zur Kirchentür hinaufstiegen. Dort warteten wir etwa fünf Minuten, die uns jedoch viel länger vorkamen, bis der Leichenwagen vor dem Tor hielt und der Pastor aus der Kirche trat, um sich zu uns zu gesellen. Gemeinsam blickten wir den Männern des Bestattungsinstituts entgegen, die Mrs. Drablows Sarg trugen.
Es war ein melancholischer Trauergottesdienst bei so wenigen Personen in der kalten Kirche, und ich fröstelte, als ich wieder dachte, wie unsagbar traurig es war, dass das Ende eines langen Menschenlebens, von Geburt, durch Kindheit und Reife zu hohem Alter, beim letzten Gang von keinerlei Blutsverwandten oder lieben Freunden begleitet wurde, nur von zwei Männern, die lediglich eine Geschäftsverbindung dazu veranlasste und von denen einer die Verstorbene während ihres Lebens kein einziges Mal gesehen hatte.
Gegen Ende der Messe jedoch hörte ich ein leises Rascheln hinter mir, drehte mich diskret um und sah eine Trauernde, die in die Kirche gekommen sein musste, nachdem wir unsere Plätze eingenommen hatten. Sie saß mehrere Bankreihen hinter uns, ganz allein, sehr gerade und still, und sie hielt kein Gebetbuch in den Händen, wie mir auffiel. Sie trug das tiefe Schwarz der Trauer, das schon fast außer Mode war und höchstens noch in Hofkreisen und zu außerordentlich formellen Anlässen getragen wurde. Allerdings sah ihre Kleidung aus, als wäre sie aus einer alten Truhe oder einem Schrank gekramt worden, denn das Schwarz war ein wenig verschossen. Ein schutenartiger Hut beschattete ihr Gesicht, und obwohl ich sie nicht angestarrt hatte, verriet mir mein flüchtiger Blick, dass sie unter Schwindsucht oder sonst einer zehrenden Krankheit litt, denn sie war nicht nur außerordentlich bleich, weit über den Eindruck hinaus, den der Kontrast zur Schwärze ihres Gewandes erwecken mochte, die Haut spannte sich zudem so straff über die fast fleischlosen Knochen, dass sie eigentümlich blau-weiß schimmerte, und ihre Augen waren tief eingesunken. Ihre Hände, die auf der Lehne der Kirchenbank vor ihr ruhten, waren ähnlich fleischlos, fast als wäre sie das Opfer einer Hungersnot. Obwohl ich wahrhaftig kein Fachmann in medizinischen Dingen bin, hatte ich von ähnlichen Zuständen gehört, von einer so entsetzlichen Auszehrung, einer solchen Verwüstung des Fleisches, und wusste, dass sie im Allgemeinen als unheilbar erachtet wurde. Es erschien mir wie pure Ironie, dass sich eine Frau, die bereits selbst vom Tod gezeichnet war, zur Beerdigung einer anderen schleppte. Sehr alt konnte sie nicht sein. Ihre Krankheit machte es zwar schwer, ihr Alter zu schätzen, aber ich vermutete, dass sie nicht viel älter als dreißig war. Bevor ich mich wieder umdrehte, nahm ich mir vor, nach der Beerdigung mit ihr zu reden und mich zu erkundigen, ob ich ihr behilflich sein könnte. Doch gerade, als wir aufstanden, um Pastor und Sarg aus der Kirche zu folgen, hörte ich wieder das Rascheln ihres Kleides, und mir wurde bewusst, dass die Fremde bereits ging. Draußen sah ich sie dann ein Stück von dem offenen Grab entfernt an einem anderen Grabstein lehnen, der ganz mit Moos bewachsen war. Selbst im Sonnenschein und der verhältnismäßigen Wärme und der Helligkeit im Freien sah sie so ausgemergelt aus, so blass und knöchern durch ihre Krankheit, dass es taktlos gewesen wäre, sie anzublicken. Ihre Züge verrieten noch einen Hauch ihrer früheren, gewiss nicht unbeträchtlichen Schönheit, was sie ihren gegenwärtigen Zustand umso schlimmer empfinden lassen musste, ähnlich, wie es bei einem Opfer von Pocken
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