Die Frau in Schwarz
oder entstellenden Verbrennungen der Fall sein mochte.
Nun, dachte ich, es gibt zumindest eine Person, die trauert, und wer weiß, wie sehr. Und gewiss kann eine solche Wärme und Güte, solche Courage und Selbstlosigkeit nicht unbemerkt und unbelohnt bleiben, wenn Wahrheit in den Worten steckt, die wir eben in der Kirche gehört haben.
Ich nahm meinen heimlichen Blick von der Frau, wandte mich dem Sarg zu, der eben in die Erde gelassen wurde, beugte den Kopf und betete mit einer plötzlichen Inbrunst für die Seele dieser einsamen alten Frau und um Segen für unseren traurigen Kreis. Als ich wieder aufblickte, sah ich eine Amsel auf einem Stechpalmenstrauch in der Nähe sitzen und hörte ihren Gesang im Novembersonnenschein. Dann war alles vorbei. Wir verließen die Grabstätte, ich einen Schritt hinter Mr. Jerome, da ich auf die krank aussehende Frau warten wollte, um ihr meinen Arm anzubieten. Aber sie war nirgendwo zu sehen. Während ich gebetet und der Geistliche die Grabrede gehalten hatte, muss sie wohl so unauffällig gegangen sein, wie sie gekommen war, vielleicht, um uns nicht zu stören, oder um keine Aufmerksamkeit auf sich zu lenken.
Am Friedhofsausgang blieben wir kurz stehen, unterhielten uns höflich und schüttelten uns die Hände. Währenddessen hatte ich die Gelegenheit, mich umzuschauen, und bemerkte, dass man an einem so schönen, klaren Tag wie heute bis weit hinter die Kirche und den Friedhof zu den offenen Marschen und dem silbern gleißenden Wasser der Flussmündung sehen konnte, das am Horizont, wo der Himmel fast weiß war, noch stärker zu leuchten schien. Als ich mich zur anderen Seite der Kirche wandte, wurde mein Blick von folgender Szenerie gefangen genommen: Entlang des Eisenzauns um den Schulhof standen etwa zwanzig Kinder mit bleichen, ernsten Gesichtern und großen runden Augen, die wer weiß wie lange schon dort standen. Ihre kleinen Hände umklammerten die Zaunstäbe, und sie standen still und regungslos da. Es war ein eigenartig ernster und rührender Anblick. Ein ganz und gar unübliches Verhalten für Kinder, die doch sonst außerordentlich lebhaft und sorglos sind. Ich sah, dass ein Junge mich anblickte, und lächelte ihm zu. Er lächelte nicht zurück.
Als ich bemerkte, dass Mr. Jerome höflich auf der Straße auf mich wartete, folgte ich ihm rasch.
»Sagen Sie mir …«, wandte ich mich an ihn, als ich ihn erreicht hatte, »diese andere Frau … ich hoffe, sie kommt gut nach Hause … sie sah so schrecklich unwohl aus. Wer war sie?«
Er runzelte die Stirn.
»Die junge Frau mit dem ausgemergelten Gesicht. Sie saß in der Kirche hinten und stand auf dem Friedhof einige Meter von uns entfernt.«
Mr. Jerome blieb abrupt stehen und starrte mich an. »Eine junge Frau?«
»Ja, mit so straff über die Knochen gespannter Haut, dass es schon weh tat, sie anzusehen. Sie war groß, trug eine Schute – ich vermute, um so viel wie möglich von ihrem Gesicht zu verbergen, die Ärmste.«
Ein paar Sekunden lang herrschte auf dieser ruhigen, leeren Straße im hellen Sonnenschein eine Stille wie in der Kirche. Eine Stille, so tief, dass ich mein Herz schlagen hörte. Mr. Jerome war bleich, wie erstarrt, und sein Adamsapfel hüpfte, als brächte er keinen Ton hervor.
»Fühlen Sie sich nicht gut?«, fragte ich besorgt.
Schließlich gelang ihm ein Kopfschütteln. Es kam mir vor, als ringe er nach einem ungeheuren Schock mit allen Kräften um seine Fassung. Die Farbe kehrte allerdings nicht in sein Gesicht zurück, und seine Lippen hatten einen leicht bläulichen Ton. Schließlich sagte er leise: »Ich habe keine junge Frau gesehen.«
»Aber gewiss …« Ich blickte unwillkürlich zurück – und da war sie wieder! Flüchtig sah ich ihr schwarzes Kleid und die Umrisse ihres Hutes. Sie war also gar nicht gegangen, sondern hatte sich hinter einem Busch oder Grabstein oder auch im Schatten der Kirche verborgen gehalten und darauf gewartet, dass wir gingen, damit sie tun konnte, was sie jetzt tat: sich zu dem Grab zu begeben, in das Mrs. Drablow eben zur letzten Ruhe gelegt worden war, und hinunterzublicken. Wieder fragte ich mich, in welcher Beziehung sie wohl zu ihr gestanden hatte, welche, vielleicht seltsame Geschichte hinter ihrer verstohlenen Teilnahme an der Beerdigung stecken mochte, und welch tiefe Trauer sie jetzt empfand, so ganz allein dort.
»Sehen Sie!«, sagte ich und deutete. »Da ist sie wieder … Sollten wir nicht …« Ich hielt inne, als Mr. Jerome
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