Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Frau in Schwarz

Die Frau in Schwarz

Titel: Die Frau in Schwarz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susan Hill
Vom Netzwerk:
Körper und war froh über ihre Gegenwart. Mein Wutanfall beschämte mich, und obwohl der Sturm draußen weiterhin brauste und heulte und obwohl die Böen immer noch die schrecklichen Schreie des Kindes herbeitrugen, beruhigte ich mich langsam wieder.
    Ich war mir sicher, dass ich nicht mehr einschlafen würde, aber ich traute mich nicht, in dieser völligen Dunkelheit die Treppe hinunterzugehen. Das Gefühl, dass noch jemand hier war, hatte mir jegliche Zuversicht geraubt. Meine Taschenlampe war kaputt. Ich brauchte eine Kerze, irgendein Licht, und wenn es noch so schwach war. Es gab eine Kerze in der Nähe. Ich hatte sie auf dem Tisch neben dem Bettchen im Kinderzimmer stehen sehen.
    Es dauerte lange, bis ich genug Mut gefasst hatte, um mich durch den kurzen Gang in das Zimmer zu tasten, das – wie mir allmählich dämmerte – Ausgangspunkt all dieser seltsamen Geschehnisse im Haus war. Meine lähmende Angst machte jeden zusammenhängenden Gedanken und jedes vernünftige Handeln unmöglich. Mit der Zeit verstand ich, dass der Mensch nicht dafür gemacht war, auf Dauer in einem Zustand des Grauens zu verharren. Entweder steigert sich die Gefühlsspannung, bis er, von weiteren grauenvollen Geschehnissen und noch schrecklicherer Angst getrieben, die Flucht ergreift, vielleicht sogar in den Wahnsinn, oder aber seine Angst nimmt allmählich ab, und er gewinnt seine Fassung zurück.
    Der Wind heulte ohne Unterlass über die Marschen und warf sich gegen das Haus. Doch das war ein natürliches Geräusch, eines, das ich kannte, mit dem ich zurechtkam und von dem keine Gefahr ausging. Die Dunkelheit lichtete sich nicht, und das würde wohl auch in den nächsten Stunden so bleiben. Aber auch die Dunkelheit war natürlich und gab ebenso wenig Anlass, sich zu fürchten, wie das Heulen des Sturms. Und sonst geschah nichts. Das Gefühl, dass sich noch jemand im Haus befand, war verschwunden. Die fernen Schreie des Kindes hörten endlich auf, und aus dem Kinderzimmer kam nicht der geringste Laut, weder vom Schaukelstuhl noch von sonst irgendeiner Bewegung. Während ich mit Spider auf dem Boden kauerte, hatte ich gebetet, dass, was immer Grauenvolles sich im Haus befand, vertrieben werden möge, oder dass ich zumindest so weit Herr meiner selbst würde, dass ich es stellen und besiegen könnte. Als ich nun unsicher und mit schmerzenden, steifen Gliedern auf die Füße kam, war ich froh, dass ich mich wieder rühren konnte, und unendlich erleichtert, dass ich mich, zumindest in diesem Augenblick, nichts Schlimmerem zu stellen brauchte als dem Weg im Dunklen zum Kinderzimmer, um die Kerze zu holen. Ganz langsam begab ich mich dorthin und zitterte immer stärker, je weiter ich in das Zimmer ging. Schließlich fand ich den Tisch, griff nach der Kerze im Halter und tastete mich an den Möbelstücken und der Wand zurück zur Tür.
    Ich redete mir ein, dass sich in dieser Nacht keine weiteren schrecklichen Geschehnisse ereignen würden, nichts, was mir Angst machen könnte, außer dem Wind und der vollkommenen Dunkelheit. Auf gewisse Weise stimmte das auch, denn das Kinderzimmer war leer und der Schaukelstuhl reglos – alles war, soweit ich erkennen konnte, wie zuvor. Ich wusste zu diesem Zeitpunkt allerdings noch nicht, was dieses übermächtige Gefühl gleich beim Betreten des Zimmers in mir auslösen sollte. Es war nicht Angst, auch nicht Grauen, sondern eine überwältigende Traurigkeit, eine tiefe Trauer über einen ungeheuren Verlust. Ein Leid, das von unendlicher Verzweiflung herrührte. Meine Eltern lebten beide, ich hatte einen Bruder, viele Freunde und Stella, meine Verlobte. Ich war noch ein junger Mann. Abgesehen von dem unvermeidlichen Verlust älterer Tanten und Onkel und Großeltern, hatte ich mich noch nie mit dem Tod eines tatsächlich Nahestehenden auseinandersetzen müssen, hatte nie verzweifelte Trauer empfunden. Doch das Gefühl, das dem Tod eines Menschen folgt, der einem Herzen so nahe war, wie es nur möglich sein konnte, das lernte ich in jenem Kinderzimmer in Eel Marsh House kennen. Es brach mich. Und doch war ich verwirrt und verwundert, denn ich hatte keinen Grund, eine solche Trauer, einen solchen Schmerz zu verspüren. Es war, als wäre ich in diesem Zimmer zu einer anderen Person geworden oder durchlebte zumindest nicht meine, sondern die Regungen eines anderen Menschen. Es war ebenso beunruhigend und eigenartig wie alle anderen Ereignisse der vergangenen Tage. Als ich das Zimmer verließ, die Tür

Weitere Kostenlose Bücher