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Die Frau in Schwarz

Die Frau in Schwarz

Titel: Die Frau in Schwarz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susan Hill
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die Türen geworfen und gegen die Fenster geschlagen hatte, doch nie bis zu mir hatte vordringen können. Ich kuschelte mich wieder in die Kissen und sank in diesen angenehmen, tranceähnlichen Zustand zwischen Wachen und Schlafen und rief mir alle damaligen Empfindungen und Eindrücke ins Gedächtnis, bis ich mich wieder wie ein kleiner Junge fühlte.
    Da plötzlich gellte ein Schrei durch die heulende Dunkelheit und riss mich aus der wohligen Schläfrigkeit in die Gegenwart zurück. Ich lauschte angestrengt. Nichts. Nur das Toben des Sturms, sein furchtbares Geheul, und das Krachen und Rattern der Fenster in ihren alten, verzogenen Rahmen. Doch dann, ja, es war ein Schrei: dieser schon so vertraute Schrei der Todesangst, der Hilfeschrei eines Kindes irgendwo draußen in der Marsch. Aber da war kein Kind. Das wusste ich. Wie könnte es hier eines geben? Doch wie sollte ich ruhig im Bett liegen und den Schrei eines schon so lange spukenden Geistes einfach nicht beachten? »Ruhe in Frieden«, murmelte ich. Doch dieser Geist tat es nicht, konnte nicht.
    Nach ein paar Minuten stand ich auf. Ich wollte in die Küche hinuntergehen, mir etwas zu trinken holen, das Feuer schüren, mich davorsetzen und versuchen, die Ohren vor diesen verzweifelten Schreien zu verschließen, weil ich nicht helfen konnte, weil niemand das – wer weiß, seit wie vielen Jahren – gekonnt hatte.
    Als ich, dicht gefolgt von Spider, auf den Treppenabsatz trat, geschahen zwei Dinge gleichzeitig. Ich hatte den Eindruck, dass jemand, nur eine Sekunde zuvor, den Flur hinunter zu einem der anderen Zimmer an mir vorbeigegangen war. Und als ein neuerlicher Windstoß durch das Haus fuhr, der es in den Grundfesten zu erschüttern schien, gingen alle Lichter aus. Da ich meine Taschenlampe auf dem Nachttischchen hatte liegen lassen, stand ich nun im Stockdunkeln und war einen Augenblick lang orientierungslos.
    Und die Person, die an mir vorbeigekommen war und sich mit mir im Haus befand? Ich hatte niemanden gesehen, nichts gespürt, keine Bewegung, keinen Ärmel, der mich gestreift hätte, keinen Luftzug, ja nicht einmal leise Schritte waren zu hören gewesen. Aber ich war ganz sicher, dass eben erst jemand dicht an mir vorbeigekommen und den Korridor entlanggegangen war, und zwar den kurzen, den, der zum Kinderzimmer führte – dessen Tür zuerst so fest verschlossen gewesen war und sich dann auf unerklärliche Weise von selbst geöffnet hatte. Eine Sekunde lang fragte ich mich, ob nicht etwa wirklich jemand – eine lebende Person – in diesem Haus wohnte, die sich in diesem geheimnisvollen Kinderzimmer versteckt hielt und nur nachts herauskam, um sich zu essen und zu trinken zu holen und ein wenig frische Luft zu schnappen. Vielleicht die Frau in Schwarz? Hatte Mrs. Drablow irgendeiner menschenscheuen Verwandten oder Hausangestellten Unterkunft gewährt? Hatte sie eine geistig nicht zurechnungsfähige Freundin zurückgelassen, von der niemand etwas wusste? Alle möglichen wilden Phantasien gingen mir durch den Kopf, während ich verzweifelt nach einer schlüssigen Erklärung suchte für mein unleugbares Gefühl, nicht mehr alleine im Haus zu sein. Doch dann hörten diese Hirngespinste auf. Es gab in Eel Marsh House nichts Lebendiges außer mir und Samuel Dailys Hündin. Was immer hier war, wen immer ich gesehen und schaukeln gehört hatte, wer gerade an mir vorbeigekommen, wer immer die geschlossene Tür geöffnet hatte, war nicht real. Nein. Aber was war real? In diesem Moment begann ich, an der Realität meines eigenen Daseins zu zweifeln.
    Das Erste, was ich jetzt brauchte, war Licht. Ich tastete mich zu meinem Bett zurück, fand meine Taschenlampe, und als ich einen Schritt rückwärts machte, stolperte ich über Spider, die unmittelbar hinter mir gewesen war, und die Lampe entglitt mir. Sie flog durchs Zimmer und fiel irgendwo in der Nähe des Fensters mit einem Krachen und Splittern von Glas auf den Boden. Ich fluchte, fand sie aber, nachdem ich auf Händen und Knien herumgekrochen war. Ich knipste sie an, doch es blieb dunkel. Für einen Moment war ich vor Verzweiflung, Furcht und Anspannung den Tränen so nahe wie seit meiner Kindheit nicht mehr, doch anstatt zu weinen, schlug ich wütend auf die Dielen, bis meine Hände schmerzten. Spider brachte mich wieder zur Besinnung, indem sie mich am Arm kratzte und dann meine Hand ableckte, die ich ihr entgegenstreckte. Wir saßen gemeinsam auf dem Boden, ich schlang die Arme um ihren warmen

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