Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Frau in Schwarz

Die Frau in Schwarz

Titel: Die Frau in Schwarz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susan Hill
Vom Netzwerk:
hatte, bis ich einschlief. Manchmal, wenn ich krank war oder Fieber hatte oder aus einem Alptraum hochschreckte, war sie oder meine Mutter gekommen, um mich aus dem Bett zu heben und sich mit mir in diesen Stuhl zu setzen, mich in den Armen zu halten und zu schaukeln, bis ich wieder ruhig und schläfrig war. Das Geräusch, das ich gehört hatte, war jenes, an das ich mich aus meiner frühen Kindheit erinnerte, aus einer Zeit, aus der meine ersten Erinnerungen stammten. Dieses Geräusch bedeutete Trost und Geborgenheit, Frieden und Liebe, diese regelmäßige, rhythmische Melodie am Ende des Tages, die mich in den Schlaf und in meine Träume lullte, der Klang, der bedeutete, dass sich eine der zwei Personen, die mir auf der Welt am nächsten waren und die ich am meisten liebte, in meiner Nähe befand. Und während ich auf dem dunklen Gang stand und zuhörte, übte dieses Geräusch die gleiche Wirkung auf mich aus wie früher. Schon bald fühlte ich mich in einen Zustand der Schläfrigkeit und Ruhe versetzt. Die Angst und Anspannung meines Körpers, die es anfangs geweckt hatte, glitten allmählich von mir ab. Ich atmete langsamer und tiefer und spürte eine Wärme meine Gliedmaßen durchziehen. Nichts konnte in meine Nähe kommen, das imstande wäre, mir etwas anzutun oder mich zu ängstigen, ich hatte einen Schutzengel. Vielleicht hatte ich wirklich einen. Vielleicht war tatsächlich etwas Wahres an den Geschichten, die ich als Kind über unsichtbare himmlische Geister gehört und geglaubt hatte, Wesen, die um uns sind und uns beschützen. Vielleicht lag es jedoch auch nur daran, dass meine durch das Schaukeln geweckten Erinnerungen so positiv und so mächtig waren, dass sie alles besiegten und vertrieben, was finster und beunruhigend, böse und erschreckend war.
    Wie dem auch sei, ich hatte endlich den Mut, mich in das Zimmer zu begeben und mich dem zu stellen, was immer sich darin befand. Und so ging ich, ehe meine Entschlossenheit wanken und meine Angst zurückkehren konnte, festen Schrittes in das Zimmer. Ich hob die Hand zum Lichtschalter an der Wand, doch das Licht ging nicht an, als ich ihn betätigte. Meine Taschenlampe verriet mir, als ich gen Decke leuchtete, dass sich keine Glühbirne in der Fassung befand. Doch der Strahl meiner Taschenlampe war hell genug für mein Vorhaben. Als ich eintrat, stieß Spider ein Winseln aus einer Ecke hervor, kam jedoch nicht zu mir herüber. Ganz langsam und vorsichtig schaute ich mich in dem Zimmer um.
    Es sah fast so aus wie das Zimmer, an das ich mich gerade erinnert hatte, das Zimmer, zu dem das wiedererkannte Geräusch gehörte. Es war ein Kinderzimmer. Das Bettchen stand in einer Ecke – es war von der gleichen Art wie meines, ein niedriges, schmales Holzbett, und daneben, schräg dem offenen Kamin zugewandt, stand der Schaukelstuhl, und auch er war dem meiner Kindheit sehr ähnlich: Der Sitz war niedrig, die Lehne hoch mit waagerechten Sprossen aus dunklem Holz, Ulme vielleicht, und mit breiten, abgenutzten Kufen. Während ich ihn anschaute, nein anstarrte, schaukelte er sanft mit allmählich abnehmender Geschwindigkeit, wie ein solcher Stuhl eben noch eine geraume Weile weiterschaukelt, nachdem jemand aus ihm aufgestanden ist. Aber es war niemand da, das Zimmer war leer. Wäre irgendjemand auf den Korridor getreten, hätte er an mir vorbeikommen müssen.
    Ich leuchtete mit der Taschenlampe über die Wände. Da war der Kamin, die geschlossenen Fenster, verriegelt, wie es in allen Kinderzimmern der Fall ist, um ihre kleinen Bewohner vor dem Hinausfallen zu schützen. Eine zweite Tür gab es nicht.
    Der Stuhl schaukelte immer langsamer, bis die Bewegung so gering war, dass ich sie kaum noch sehen oder hören konnte. Dann kam sie völlig zum Erliegen, und es herrschte Stille.
    Das Zimmer war vollständig eingerichtet und so sauber und gepflegt, dass man meinen konnte, sein Bewohner sei nur für eine Nacht verreist oder mache vielleicht auch nur einen Spaziergang. Hier war es nicht klamm und muffig, und man hatte das Gefühl, dass es immer noch benutzt wurde, im Gegensatz zu all den anderen Zimmern von Eel Marsh House. Sorgfältig und vorsichtig, mit fast angehaltenem Atem, sah ich mich um. Ich betrachtete das gemachte Bett. Ein Leintuch, Kopfkissen, Wolldecken, ein Federbett und eine Tagesdecke lagen darin. Daneben stand ein Tischchen und darauf ein winziges Holzpferdchen und ein Nachtlicht, dessen Kerze halb abgebrannt in einem mit Wasser gefüllten Halter steckte.

Weitere Kostenlose Bücher