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Die Frau mit dem roten Herzen

Die Frau mit dem roten Herzen

Titel: Die Frau mit dem roten Herzen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Qiu Xiaolong
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tiefen Linien um die glanzlosen Augen, deren Winkel wie von einer unsichtbaren Last nach unten gezogen wurden. Das war die Frau auf dem Foto für den Paßantrag. Wie anders dagegen die Bilder aus ihrer Schulakte; damals hatte Wen freudig in die Zukunft geblickt, ein junges, hübsches, intelligentes Mädchen an deren erhobenem Arm die Binde der Roten Garden prangte. Damals war Wen eine der »Schulprinzessinnen« gewesen, auch wenn dieser Ausdruck in den Jahren der Kulturrevolution nicht üblich war.
    Besonders beeindruckte ihn eine Aufnahme, die Wen auf dem Shanghaier Bahnhof zeigte. Sie tanzte mit einem Herz aus roter Pappe in der Hand, auf dem das Schriftzeichen für »loyal« stand. Langer, graziöser Hals, wohlgeformte Beine, vereinzelte schwarze Haarsträhnen, die sich an die Wangen schmiegten, und wieder die rote Armbinde auf dem grünen Uniformärmel. Sie stand im Mittelpunkt einer Gruppe gebildeter Jugendlicher, ihre mandelförmigen Augen blinzelten ins Sonnenlicht, hinter ihr, im Meer der roten Fahnen, sah man Musikanten mit Trommeln und Gongs. Unter dem Foto stand: »Die gebildete Jugendliche Wen Liping, Abgängerin des Jahrgangs 1970 der Großer-Sprung-nach-vorn-Oberschule.« Das Bild war in den frühen siebziger Jahren in der Wenhui Zeitung erschienen, als Mittel- und Oberschüler aus den Städten aufs Land geschickt wurden, um gemäß Maos Parole durch die armen und unteren Mittelbauern umerzogen zu werden.
    Wen wurde in das Dorf Changle in der Provinz Fujian verschickt, wo sie als gebildete Jugendliche »Familienanschluß« suchen sollte. Kaum ein Jahr später war sie mit dem fünfzehn Jahre älteren Feng Dexiang verheiratet, der das Revolutionskomitee der örtlichen Volkskommune leitete. Für diese Heirat kursierten unterschiedliche Erklärungen. Die einen vermuteten den Grund in ihrer glühenden Anhängerschaft für Mao Zedong, die anderen eher in einer Schwangerschaft. Jedenfalls bekam sie im Jahr darauf ein Kind. Wenn sie mit dem Neugeborenen auf dem Rücken in ihrem schweißdurchtränkten schwarzen Baumwollkittel barfuß in den Reisfeldern schuftete, hielt kaum jemand sie für eine gebildete Jugendliche aus der Stadt. Im folgenden Jahr kehrte sie nur einmal kurz nach Shanghai zurück, und zwar zur Beisetzung ihres Vaters. Nach der Kulturrevolution wurde Feng von seinem Posten entfernt. Zusätzlich zu der Arbeit auf den Feldern und im Gemüsegarten arbeitete Wen nun auch noch in der Kommunefabrik, um ihre Familie durchzubringen. Ihr einziger Sohn starb bei einem tragischen Unfall. Und vor einigen Monaten hatte Feng nun an Bord der Goldenen Hoffnung dasLand verlassen.
    Kein Wunder, dachte sich Chen, daß sie auf dem Paßantrag nicht mehr so aussah wie in ihrer Schulakte.
    Die Blüte fällt, das Wasser rinnt, der Frühling flieht / Die Welt hat sich verändert.
    Zwanzigjahre, vergangen wie im Handumdrehen. Wen hatte die Oberschule nur zwei, drei Jahre vor ihm beendet. Oberinspektor Chen mußte sich eingestehen, daß er trotz dieses absurden Auftrags wenig Grund zur Klage hatte.
    Wieder sah er auf die Uhr. Bis zur Ankunft des Flugzeugs blieb noch ein wenig Zeit. Von einer Telefonzelle aus rief er Qian Jun im Präsidium an. »Hat Hauptwachtmeister Yu sich schon gemeldet?«
    »Nein, noch nicht.«
    »Das Flugzeug hat Verspätung. Ich muß auf die Amerikanerin warten und sie dann in ihr Hotel bringen. Wenn Yu anruft, sagen Sie ihm bitte, daß er es bei mir zu Hause versuchen soll. Und sehen Sie zu, daß Sie den Autopsiebericht für die Leiche im Park so schnell wie möglich bekommen.«
    »Ich werde mein Bestes tun, Oberinspektor Chen«, sagte Qian. »Dann übernehmen Sie den Fall also.«
    »Ja, auch ein Mordopfer im Bund-Park hat politische Priorität.«
    »Aber natürlich, Oberinspektor Chen.«
    Dann rief er Peiqin, die Frau von Hauptwachtmeister Yu, an.
    »Peiqin, hier ist Chen Cao. Ich bin noch am Flughafen. Tut mir leid, daß ich Yu so kurzfristig wegschicken mußte.«
    »Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen, Oberinspektor Chen.«
    »Hat er schon zu Hause angerufen?«
    »Nein, noch nicht. Ich wette, er wird sich zuerst bei Ihnen melden.«
    »Er ist bestimmt gut angekommen. Machen Sie sich keine Sorgen. Vermutlich rührt er sich heute  abend.«
    »Vielen Dank.«
    »Machen Sie’s gut, Peiqin. Und herzliche Grüße an Qinqin und den Alten Jäger.«
    »Das richte ich aus. Ihnen auch alles Gute.«
    Wieviel lieber hätte er jetzt bei Yu gesessen und zusammen mit ihm Hypothesen entwickelt, obgleich sein

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