Die Frau mit dem roten Herzen
halbstündigen Mittagspausen. Und Yu, Polizist auf niedrigster Rangstufe, kam bald zu der Einsicht, daß er wohl immer ein solcher bleiben würde. Dennoch konnte er sich nicht beklagen – Peiqin war ihm eine wunderbare Ehefrau, und Qinqin wuchs zu einem Sohn heran, in den man Hoffnungen setzen konnte.
Er fragte sich, warum Wen nicht wie so viele andere nach Shanghai zurückgekommen war. Viele der inzwischen verheirateten Landverschickten hatten sich, um heimkehren zu können, wieder scheiden lassen. In diesen absurden Jahren mußte man gelegentlich absurde Dinge tun, um überleben zu können. Heutzutage verstanden das viele nicht mehr, nicht einmal der nur um wenige Jahre jüngere Oberinspektor Chen, der selbst nicht mehr aufs Land gemußt hatte. »Achtung, es ist Zeit für das Abendessen. Passagiere, die eine Kleinigkeit essen wollen, begeben sich bitte in Wagen 6.« Eine heisere Frauenstimme verlas den Speiseplan über den Zuglautsprecher. »Heute abend gibt es gebratene Reiskuchen mit Schweinefleisch, Teigtäschchen mit Gemüse-Füllung und Nudeln mit Pilzen. Außerdem servieren wir Bier und Wein.«
Er holte eine Packung Fertignudeln hervor, goß Wasser aus der für Passagiere bereitgestellten Thermoskanne in seinen Emaillebecher und ließ die Nudeln darin ziehen. Das Wasser war nicht heiß genug, und es dauerte lange, bis die Nudeln weich waren. Peiqin hatte ihm außerdem einen geräucherten Karpfenkopf in eine Plastiktüte gepackt. Doch auch der konnte die Laune von Hauptwachtmeister Yu nicht verbessern. Es war, als solle ein Koch aus Shanghai in einer Küche in Fujian kochen. Dieser Auftrag war doch ein Witz. Was konnte ein einzelner Polizist aus Shanghai ausrichten, wo die Kollegen aus Fujian gescheitert waren? Man schien ihnen die Leitung über die Ermittlungen im Falle Wen nur deshalb übertragen zu haben, um die Amerikaner damit zu beeindrucken. Er pulte das starr blickende Auge aus dem Karpfenkopf.
Gegen drei Uhr morgens döste Yu endlich ein, er saß steif und aufrecht wie ein Bambusstecken, und der Kopf schlug ihm immer wieder gegen die harte Sitzlehne.
Als greller Sonnenschein ihn weckte, hatte sich auf dem Gang bereits eine lange Schlange vor den Toiletten gebildet. Eine Ansage aus dem Zuglautsprecher verkündete, daß es nicht mehr weit bis Fuzhou sei.
Nach der im Sitzen verbrachten Nacht war sein Hals verrenkt, die Schultern schmerzten, und die Beine fühlten sich taub an. Er betrachtete den Mann mittleren Alters, der ihm aus dem reflektierenden Zugfenster entgegenblickte, und schüttelte den Kopf. Das Gesicht war unrasiert, die Augen waren von Müdigkeit gezeichnet. Er hatte nichts mehr von dem energiegeladenen gebildeten Jugendlichen, der seinerzeit mit Peiqin im Zug nach Yunnan gesessen hatte.
Eine weitere Folge seiner Reise in der »harten Klasse« war, daß er geschlagene fünf Minuten brauchte, um am Bahnhof den Mann mit dem Pappschild zu entdecken, auf dem sein Name stand. Es war Wachtmeister Zhao Youli von der Provinzpolizei Fujian, der seinen Kollegen aus Shanghai natürlich unter den Schlafwagenpassagieren gesucht hatte. Zhao war rotwangig, hatte kleine Äuglein, viel Pomade im Haar und trug einen teuren weißen Anzug, eine rote Seidenkrawatte und auf Hochglanz polierte Schuhe. Seine Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen, als er Yu entgegenlächelte.
»Willkommen, Hauptwachtmeister Yu. Ich werde mit Ihnen zusammenarbeiten.«
»Vielen Dank, Wachtmeister Zhao.«
»Ich hatte dort drüben nach Ihnen gesucht«, sagte Zhao.
»Die Schlafwagen waren ausgebucht«, log Yu und wurde sich plötzlich seines wenig eleganten Aufzugs bewußt. In seiner abgetragenen Arbeiterjacke und den von der nächtlichen Zugfahrt zerknautschten Hosen schien er eher der Leibwächter als der Partner des herausgeputzten Kollegen zu sein. »Gibt es neue Entwicklungen, Wachtmeister Zhao?«
»Nein. Wir haben bereits überall nach Wen gesucht. Leider ohne Erfolg. Dieser Fall hat für uns höchste Priorität. Ich bin sehr froh, daß Sie die weite Reise auf sich genommen haben, um uns zu helfen.«
Yu meinte, leisen Sarkasmus in Zhaos Stimme zu vernehmen. »Ach kommen Sie, Wachtmeister, lassen wir doch die Höflichkeiten. Ich habe kaum Informationen über den Fall und weiß ehrlich gesagt nicht, warum ich eigentlich hier bin. Es war eine Anordnung des Ministeriums.«
Yu nahm keineswegs an, hier etwas ausrichten zu können. Entweder war seine Mission reines Imponiergehabe den Amerikanern gegenüber, oder aber
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