Die Frau mit dem roten Herzen
zurückgeschickt werden. Aber nein, man gewährt ihnen noch lange Aufenthalt und ermutigt sie, um politisches Asyl anzusuchen. Auf diese Weise ist das Problem außer Kontrolle geraten. Wenn die Amerikaner Jia endlich festnageln könnten, wäre das ein schwerer Schlag gegen die Schmugglerringe.«
»Sie sind mit allen Aspekten des Problems bestens vertraut, Polizeipräsident Hong. Hauptwachtmeister Yu und ich sind auf Ihre Hilfe angewiesen. Ich weiß allerdings nicht, ob mein Kollege schon in Fujian eingetroffen ist.«
»Soweit ich informiert bin, ja, aber ich habe noch nicht persönlich mit ihm gesprochen.«
»Ich warte hier am Flughafen auf die Ankunft der Amerikanerin. Mein Kleingeld geht langsam zu Ende. Ich werde mich heute Abend noch einmal bei Ihnen melden, Polizeipräsident Hong.«
»Jederzeit, Oberinspektor Chen.«
Das Gespräch war besser gelaufen, als er gedacht hatte. Normalerweise waren lokale Polizeidienststellen nicht sehr kooperativ gegenüber Außenseitern.
Er hängte den Hörer ein und wandte sich wieder der Anzeigentafel zu. Die Zeitangaben hatten sich verändert. Das Flugzeug würde in zwanzig Minuten landen.
4
H AUPTWACHTMEISTER Y U G UANGMING war statt zu fliegen mit dem Zug nach Fujian gefahren. Die Reisezeit war zwar etwas länger, doch seine Vorliebe für die Eisenbahn entsprang der Sparsamkeit. Nach den Regeln des Präsidiums durften Dienstreisende die Hälfte des Preisunterschieds zwischen Bahn- und Flugticket behalten, immerhin eine beträchtliche Summe, wenn der Betreffende sich statt für den weichen Schlafwagen für die »harte Klasse« entschied. In diesem Fall machte das mehr als einhundertfünfzig Yuan aus, die Yu in eine elektrische Rechenmaschine für seine Frau Peiqin investieren wollte. Sie war Buchhalterin in einem Restaurant, benutzte zu Hause aber immer noch ihren Abakus, dessen hölzerne Kugeln sie bis spät in die Nacht mit schlanken Fingern hin- und herschob. Auf seiner harten Bank sitzend, studierte Yu das Material über Wen. Die Kladde enthielt nicht viel, doch die Information, daß Wen eine landverschickte Jugendliche gewesen war, löste sogleich Erinnerungen in ihm aus. Sowohl er als auch Peiqin hatten in den frühen siebziger Jahren ebenfalls zu dieser Gruppe gehört.
Als er das Material zur Hälfte durchgesehen hatte, zündete er sich eine Zigarette an und starrte gedankenverloren den Rauchringen nach. Die Gegenwart veränderte den Blick auf die Vergangenheit, aber die Vergangenheit konnte auch die Gegenwart verändern.
Die Schulabgänger des Jahrgangs 1970 mußten, gerade mal sechzehn Jahre alt, Shanghai zur »Umerziehung« verlassen und wurden auf einen Landwirtschaftsbetrieb des Militärs in der Provinz Yunnan an der südchinesisch-burmesischen Grenze gebracht. Die Eltern von zweien dieser Jugendlichen hatten am Vorabend der Abreise ein langes Gespräch miteinander. Am nächsten Morgen war Peiqin bei Yu zu Hause erschienen, war auf einen der Laster geklettert und hatte sich neben ihn gesetzt. Vor lauter Schüchternheit wagte sie ihn auf der Fahrt zum Bahnhof nicht ein einziges Mal anzusehen. Yu begriff, daß es sich um eine Art arrangierte Verlobung handelte. Ihre Familien wollten, daß sie an diesem Tausende von Kilometern entfernten Ort aufeinander aufpaßten. Das taten sie auch, und mehr, obgleich sie seinerzeit nicht heirateten. Nicht etwa, weil sie sich nicht gemocht hätten, sondern weil sie als Unverheiratete größere Chancen hatten, vielleicht doch nach Shanghai zurückkehren zu können. Die damalige Politik sah vor, daß sich gebildete Jugendliche, sobald sie heirateten, auf dem Land niederzulassen hatten.
Gegen Ende der siebziger Jahre wurde diese Praxis ausgesetzt, ja sogar kritisiert, und sie konnten in die Stadt zurückkehren. Peiqin hatte vom Büro für gebildete Jugendliche eine Stelle im Restaurant Vier Meere zugewiesen bekommen. Sein Vater, der Alte Jäger, war vorzeitig in den Ruhestand gegangen, damit Yu seine Stelle im Shanghaier Polizeipräsidium übernehmen konnte. Dann erst hatten sie geheiratet. Etwa ein Jahr nach der Geburt ihres Sohnes Qinqin war ihr Leben in eine nicht unangenehme Alltagsroutine verfallen, auch wenn es nicht das war, was sie sich in Yunnan erträumt hatten. Als Restaurantbuchhalterin, die in einem völlig überhitzten Verschlag über der Küche ihre Arbeit tat, war Peiqins einziger Luxus die Lektüre von Traum der Roten Kammer. Wieder und wieder las sie diesen Roman aus dem 18. Jahrhundert in ihren
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