Die Frau mit dem roten Herzen
Partner über den Fall Wen nicht gerade begeistert gewesen war, noch weniger als über den Mord im Bund-Park. Auch wenn die beiden Männer in vielem verschieden waren, hatten sie doch Freundschaft miteinander geschlossen. Er war schon mehrmals bei Yu zu Hause gewesen und hatte sich trotz der dort herrschenden Enge sehr wohl gefühlt. Das Heim der Familie Yu bestand aus einem einzigen Zimmer von höchstens elf Quadratmetern, in dem Ehepaar und Sohn schliefen, aßen und lebten. Das Nebenzimmer bewohnte Yus Vater. Yu war ein guter Gastgeber und spielte hervorragend Go, seine Frau Peiqin war im Kochen gleichermaßen bewandert wie in klassischer Literatur.
Er nahm seinen Platz in der Ecke wieder ein und beschloß, das Material über den Menschenschmuggel in Fujian durchzusehen. Es war auf englisch, da über dieses Thema nichts Chinesisches publiziert werden durfte. Er hatte gerade mal zwei Zeilen gelesen, als sich eine junge Mutter mit Kinderwagen neben ihn setzte; eine attraktive Frau Mitte Zwanzig mit schmalem, ausdrucksvollem Gesicht und einem Hauch Lidschatten um die großen Augen.
»Englisch?« sagte sie und blickte auf den Text in seiner Hand.
»Ja.« Er fragte sich, ob sie den Platz neben ihm deshalb gewählt hatte, weil sie ihn Englisch lesen sah.
Sie trug ein weißes Kleid aus dünnem Stoff, eine Art Kaftan, der um ihre langen Beine spielte. Mit ihrem sandalenbekleideten Fuß schaukelte sie den Kinderwagen, in dem ein blondes Baby schlief.
»Er hat seinen amerikanischen Daddy noch nie gesehen«, sagte sie auf chinesisch. »Sehen Sie, er hat die gleichen goldblonden Haare.«
»Wie niedlich.«
»Blond«, sagte sie auf englisch.
Heutzutage hörte man immer wieder von interkulturellen Ehen. Das schlafende Baby sah tatsächlich süß aus, aber die Bedeutung, die die Mutter der Haarfarbe beimaß, irritierte den Oberinspektor denn doch. Es klang, als könne man auf alles stolz sein, was mit dem Westen zu tun hatte.
Er stand auf, um noch einmal zu telefonieren. Zum Glück entdeckte er ein öffentliches Münztelefon für Ferngespräche. Zeit ist Geld wareiner der politisch korrekten Slogans der Neunziger, der derzeit in aller Munde war. Hier war er sicherlich zutreffend. Erwählte die Nummer des Genossen Hong Liang-xing, Polizeipräsident der Provinz Fujian.
»Polizeipräsident Hong, hier spricht Chen Cao. Parteisekretär Li hat mich soeben mit dem Fall Wen betraut, und ich versuche, mir ein Bild der Situation zu machen. Sie haben zweifellos den besten Überblick über die Ermittlungen.«
»Oberinspektor Chen, wir wissen, daß die Entscheidung über unsere Zusammenarbeit im Ministerium getroffen wurde. Wir werden selbstverständlich alles tun, um behilflich zu sein.«
»Vielleicht könnten Sie beginnen, indem Sie mir die nötigen Hintergrundinformationen geben.«
»Illegale Auswanderung ist in dieser Gegend schon jahrelang ein Problem. Seit etwa 1985 ist es noch schlimmer geworden. Durch die Öffnungspolitik haben die Menschen Zugang zu westlicher Propaganda erhalten und glauben, im Ausland läge das Geld auf der Straße. Es haben sich taiwanische Schmugglerringe etabliert. Mit ihren großen, modernen Schiffen wurde die Reise über den Ozean möglich und warf zudem jede Menge Profit ab.«
»Ja, Leute wie Jia Xinzhi betätigen sich als professionelle Menschenschmuggler.«
»Und ansässige Banden wie die ›Fliegenden Äxte‹ wurden ihre Handlanger. Vor allem indem sie für prompte Zahlungen an den Schmugglerring sorgen.«
»Was kostet so etwas?«
»Dreißigtausend US Dollar pro Person.«
»Puh, so viel! Von den Zinsen einer solchen Summe könnte man auskömmlich leben. Warum nehmen die Leute dieses Risiko auf sich?«
»Weil sie glauben, dort drüben könnten sie so viel in ein bis zwei Jahren verdienen. Außerdem ist das Risiko nicht mehr so groß, seit vor einigen Jahren unsere Gesetze geändert wurden. Wer geschnappt wird, kommt nicht mehr ins Gefängnis oder ins Straflager. Man schickt ihn einfach nach Hause zurück. Es erwachsen ihm daraus auch keine politischen Repressalien. Also kümmert man sich nicht weiter um die möglichen Folgen.«
»Noch in den Siebzigern wurden lange Gefängnisstrafen verhängt«, bemerkte Chen. Einer seiner Lehrer war eingesperrt worden, bloß weil er den Sender »Voice of America« gehört hatte.
»Ein weiterer Faktor, Sie werden es nicht glauben, ist das amerikanische Verhalten in solchen Fällen. Wenn Leute dort erwischt werden, sollten sie doch sofort nach China
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