Die Frau mit dem roten Herzen
gleich sehen.«
Fünfzehn Minuten später erreichten sie das Dorf. Die Häuser, aus denen es bestand, wiesen markante Unterschiede auf. Es gab moderne, stattliche Villen, wie sie in den besseren Wohnvierteln Shanghais zu finden waren, die anderen Häuser waren alt, schäbig und klein.
»Man fühlt sich wie in zwei Welten«, bemerkte Yu.
»Genau«, erwiderte Zhao. »Es besteht ein Riesenunterschied zwischen den Familien, die Angehörige im Ausland haben, und den anderen. Alle neuen Häuser hier wurden mit Geld aus dem Ausland gebaut.«
»Wirklich erstaunlich. In Shanghai wären diese Neubauten Millionen wert.«
»Ich werde Ihnen ein paar Zahlen nennen, Hauptwachtmeister Yu. Das Jahreseinkommen einer Bauernfamilie beträgt hier etwa dreitausend Yuan, und das setzt einigermaßen gutes Wetter voraus. In New York kann man diese Summe in einer Woche verdienen. Und wenn man in einem Restaurant arbeitet, kann man dort umsonst essen und schlafen und bekommt seinen Lohn bar auf die Hand. Wenn man zwei Jahre lang spart, kann man sich hier ein zweistöckiges Haus hinstellen, möbliert und mit allen Schikanen. Da können Familien ohne Angehörige im Ausland natürlich nicht mithalten. Sie müssen zusammengepfercht in diesen heruntergekommenen Hütten leben, im Schatten ihrer reich gewordenen Nachbarn.«
»Ja, mit Geld kann man nicht alles erreichen«, zitierte Yu eine Passage aus einem neuen Film, »aber nichts kann man ohne Geld erreichen.«
»Die einzige Chance für die Armen ist, ebenfalls ins Ausland zu gehen. Andernfalls werden sie als töricht, faul oder unfähig betrachtet. Es ist ein echter Teufelskreis. Deshalb verlassen immer mehr Menschen das Land.«
»Waren das auch Fengs Beweggründe?«
»Zumindest muß es einer der Gründe für seine Ausreise gewesen sein.«
Sie näherten sich Wens Haus. Es war eines von den alten, vermutlich um die Jahrhundertwende gebaut und nicht gerade klein. Es hatte einen Vorgarten, einen Hinterhof und einen Schweinestall. Im Vergleich zu dem neuen Wohnstandard des Dorfes wirkte es allerdings extrem heruntergekommen. Das Tor war von außen mit einem Vorhängeschloß aus Messing verschlossen. Zhao öffnete es mit Hilfe seines Taschenmessers. In dem verlassenen Vorgarten bemerkte Yu in einer Ecke zwei Körbe mit leeren Bier- und Schnapsflaschen.
»Feng hat ziemlich viel getrunken«, erläuterte Zhao. »Wen sammelte die Flaschen, um sie zu verkaufen.«
Sie inspizierten die Einfassungsmauer, die mit Staub bedeckt war, aber keine Spuren aufwies.
»Haben Sie unter den Sachen, die sie zurückgelassen hat, irgend etwas Verdächtiges bemerkt?« fragte Yu, als sie das Haus betraten.
»Viel war da nicht.«
Zumindest kaum Möbel, stellte Yu fest und nahm sein Notizbuch zur Hand. Der Wohnraum war von trostloser Leere. Ein wackliger Tisch mit zwei Holzbänken war alles, was er entdecken konnte. Ein Korb mit Dosen stand herum, und unter dem Tisch lagerten in Plastik eingeschweißte Pakete. Auf einem klebte die Warnung: VORSICHT! LEICHT ENTFLAMMBAR. Was immer das war, es gehörte jedenfalls nicht zur normalen Wohnzimmerausstattung.
»Was ist das?«
»Material, das Wen für ihre Arbeit brauchte«, erklärte Zhao.
»Hat sie denn hier zu Hause gearbeitet?«
»Ihre Arbeit in der kommuneeigenen Fabrik war einfach. Sie hat mit einem chemischen Schleifmittel Werkstücke geglättet, die noch rauh waren. Dazu hat sie die Finger in die Paste getaucht und die entsprechenden Stellen abgerieben, wie ein menschlicher Schleifstein. Die Leute hier werden nach Stücklohn bezahlt. Um noch ein paar Yuan mehr zu verdienen, hat sie Chemikalien und Werkstücke mit nach Hause genommen.«
Sie betraten das Schlafzimmer. Das Bett war riesig und alt und hatte ein geschnitztes Kopfteil. Die Kommode war ähnlich verziert, enthielt aber vorwiegend Lumpen, alte Kleider und nutzloses Zeug. Nur eine der Schubladen war mit Kinderkleidung und -schuhen vollgestopft, die vermutlich dem verstorbenen Sohn gehört hatten. In einer anderen fand Yu ein Fotoalbum mit Bildern von Wen, die während ihrer Schulzeit aufgenommen worden waren.
Eines zeigte Wen auf dem Bahnhof in Shanghai, wie sie aus einem Zugfenster Leuten zuwinkte, die sangen oder revolutionäre Parolen skandierten. Yu, der Peiqin auf demselben Bahnsteig ihren Eltern hatte zuwinken sehen, waren solche Szenen wohlvertraut. Er legte einige der Fotos in sein Notizbuch. »Gibt es irgendwelche aktuellen Aufnahmen von Wen?«
»Wir haben nur ihr Paßbild.«
»Nicht einmal
Weitere Kostenlose Bücher