Die Frau mit dem roten Herzen
Wetterlage ab. Wenn unsere Regierung ein Exempel gegen den Handel mit gefälschten Waren statuieren will, dann hat sie Pech gehabt. Vielleicht ist das vergleichbar mit der Rolle, die der Fall Feng für Ihre Regierung spielt.«
»Können Sie denn nichts unternehmen?« fragte sie.
»Nein«, erwiderte er, obgleich ihm Goldamsel leid tat. Die Razzia hatte ihnen gegolten, dessen war er sich jetzt sicher. Statt ihrer hatten sie das Mädchen erwischt, das nun für ihre Geschäftspraktiken bestraft werden würde.
Das war eine Kriegserklärung, und es waren bereits Opfer zu beklagen. Erst die schwangere Qiao, und jetzt Goldamsel. Oberinspektor Chen aber tappte noch immer im dunkeln und wußte nicht, gegen wen er kämpfte.
Goldamsel hatte nun fast das Ende der Straße erreicht. Ihre Fußspuren waren bereits getrocknet.
Im elften Jahrhundert hatte Su Dongpo das folgende dichterische Bild geprägt: Das Leben ist wie der Fußabdruck eines einsamen Kranichs im Schnee. Einen Moment nur sichtbar, dann schon verschwunden.
Solche Zeilen drängten sich Chen oft in denschwierigsten Situationen auf. Er fragte sich selbst, warum er immer dann poetisch wurde, wenn das Verbrechen seinen Kreis enger um ihn schloß. In dem Moment schoß ihm ein Gedanke durch den Kopf.
»Gehen wir, Catherine.« Er stand auf, nahm sie bei der Hand und zerrte sie hinter sich die Treppe hinunter.
»Wohin?«
»Ich muß sofort zurück ins Präsidium. Es ist dringend. Mir ist etwas eingefallen. Bitte entschuldigen Sie. Ich rufe Sie später an.«
25
E INIGE S TUNDEN SPÄTER versuchte Chen vergeblich, Catherine telefonisch zu erreichen. Schließlich ging er zu ihrem Zimmer hinauf in der Hoffnung, sie dort anzutreffen.
Nach dem ersten Klopfen öffnete sich die Tür. Sie trug den scharlachroten Morgenmantel mit den goldenen Drachen und keine Strümpfe. Ihr Haar war in ein Handtuch gewickelt.
Einen Moment lang war er sprachlos. »Bitte entschuldigen Sie, Inspektor Rohn.«
»Kommen Sie doch herein.«
»Ich muß mich für diesen späten Besuch entschuldigen«, sagte er. »Ich habe mehrmals versucht, Sie anzurufen. Ich war mir nicht sicher, ob Sie im Hotel sind.«
»Hören Sie doch mit den Entschuldigungen auf. Ich war unter der Dusche. Sie sind hier ein willkommener Gast, genauso wie ich Ehrengast Ihres Präsidiums bin«, sagte sie und bot ihm einen Platz auf der Couch an. »Was möchten Sie trinken?«
»Wasser, bitte.«
Sie holte eine Flasche Mineralwasser aus dem kleinen Kühlschrank. »Etwas Wichtiges, nicht wahr?«
»Ja.« Er holte ein Blatt Papier aus seiner Aktenmappe.
»Was ist das?« Sie überflog die ersten Zeilen.
»Ein Gedicht aus Wens Vergangenheit.« Er nahm einen Schluck aus der Wasserflasche. »Meine Handschrift wird für Sie wohl schwer zu entziffern sein. Leider hatte ich keine Zeit mehr, den Text abzutippen.«
Sie setzte sich neben ihn auf die Couch. »Würden Sie es mir vorlesen?«
Als sie sich über den Text beugte, meinte er den Seifenduft auf ihrer noch feuchten Haut zu riechen. Er holte tief Luft und begann auf englisch zu lesen:
Berührung der Fingerspitzen
Wir reden in einer engen Werkstatt,
wählen mit Bedacht jeden Schritt, jedes Wort
zwischen all den Preispokalen und goldenen Statuen
und starren auf die kreiselnden Fliegen.
»Das ist Stoff für Ihren Artikel: Chinesische Arbeiter vollbringen Wunder«, sagt der Werkstattleiter.
»In Europa können das nur wenige Fachkräfte,
aber unsere Arbeiter polieren
jede Fuge mit den Fingern.«
Neben uns sitzen Frauen über ihr Werkstück gebeugt,
ihre Finger bewegen sich flink im Neonlicht.
Meine Kamera fokussiert eine Frau in mittlerem Alter,
blaß in dem schwarzen Baumwollkittel,
von Schweiß durchnäßt. Unerträgliche Sommerhitze.
Im Zoom erkenne ich mich plötzlich selbst,
eingeschmolzen in den Stahl
unter Luis Fingerspitzen.
So sanft und doch bestimmt
ist diese erotische Politur.
»Wer ist dieser Reporter in der ersten Strophe?« fragte sie verwundert.
»Das erkläre ich Ihnen, wenn ich zu Ende gelesen habe.«
Nicht daß Lili mich jemals berührt hätte.
Nicht sie, die hübscheste Linke auf dem Bahnsteig, damals im Juli 1970.
Wir waren die ersten der »gebildeten Jugendlichen«,
die die Stadt verließen und aufs Land gingen,
»zur U-hum-erziehung durch die
ar-men und un-te-ren Mittelbauern!«
So kreischte die Stimme des Steuermanns
von einer verkratzten Schallplatte am Bahnhof
Neben der Lokomotive begann Lili
zu tanzen und
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