Die Frau mit dem roten Herzen
wagte aber nicht, den Auftrag zurückzuweisen. Außerdem muß er Schuldgefühle gehabt haben, weil er ihr nicht geholfen hat.«
»Langsam verstehe ich, was Sie meinen.« Sie hockte auf der Bettkante und sah ihn an. »Wenn die Geschichte, die das Gedicht erzählt, wahr ist, dann hat er sich ihr damals nicht zu erkennen gegeben, geschweige denn ihr geholfen. Das ist es, was er mit der smaragdgrünen Schlange auf der weißen Wand ausdrücken will. Es ist ein Bild seiner eigenen Schuld, ein Symbol seiner Reue.«
»Ja, die Schlange trägt auf ewig die Last dieser Schuld. Gleich als ich das Gedicht fertig übersetzt hatte, kam ich hierher.«
»Und was gedenken Sie zu tun?« fragte sie.
»Wir müssen mit Liu sprechen. Auch wenn er Wen damals nicht angesprochen hat, so muß er ihr doch später die Anthologie geschickt haben, und sie hat sie aufbewahrt. Vielleicht gab es noch andere Kontakte zwischen ihnen.«
»Ja, das ist möglich.«
»Ich habe schon mit Leuten bei der Wenhui-Zeitung gesprochen«, sagte Chen. »Nachdem Liu vor fünf Jahren dort gekündigt hatte, gründete er eine Baustofffirma in Shanghai. Er hat einige Großaufträge aus Singapur für das neue Industriegebiet in Suzhou bekommen. Inzwischen hat er neben seiner Shanghaier Firma noch zwei Fabriken für Baustoffe und eine Sägemühle in Suzhou. Ich habe ihn heute nachmittag zu Hause angerufen. Seine Frau sagte, er sei geschäftlich in Peking, käme aber morgen zurück.«
»Fahren wir nach Suzhou?«
»Ja. Es wäre einen Versuch wert. Parteisekretär Li wird die Bahnfahrkarten morgen früh ins Hotel bringen lassen.«
»Parteisekretär Li kann sehr effizient sein«, bemerkte sie. »Wie früh?«
»Der Zug geht um acht. Um halb zehn sind wir in Suzhou. Li meinte, wir sollten zwei, drei Tage dort verbringen.«
Er hatte einen Ausflug als Tarnung für die Ermittlungen vorgeschlagen, und Li war sofort einverstanden gewesen.
»Wir werden also Touristen sein«, sagte sie. »Wie sind Sie darauf gekommen, das Gedicht mit den Ermittlungen in Verbindung zu bringen? Ich mache Ihnen auch eine Tasse Kaffee, wenn Sie es mir erzählen. Aus echten brasilianischen Kaffeebohnen. Etwas ganz Besonderes.«
»Sie machen schnelle Fortschritte in chinesischer Lebensart. Gefälligkeiten müssen erwidert werden. Das ist die Idee, die hinter dem Begriff guanxi steckt. Aber es ist schon spät, und morgen müssen wir früh raus.«
»Keine Sorge, wir können im Zug schlafen.« Sie holte eine elektrische Kaffeemühle und eine Tüte Kaffeebohnen aus dem Schrank und suchte nach einer Steckdose. »Ich weiß doch, daß Sie starken Kaffee mögen.«
»Haben Sie die Bohnen aus Amerika mitgebracht?«
»Nein, ich habe sie hier im Hotel gekauft. Die haben wirklich alles. Schauen Sie sich mal die Mühle an. Von Krups.«
»Hier werden aber auch saftige Preise verlangt.«
»Ich werde Ihnen ein Geheimnis verraten«, sagte sie. »Wir bekommen Reisespesen, die von Ort zu Ort verschieden sind. Für Shanghai sind das neunzig Dollar pro Tag. Ich halte es nicht für extravagant, wenn ich meinen Gastgeber für die Hälfte eines Tagessatzes einlade.«
Sie hatte hinter der Couch eine Steckdose entdeckt, aber das Kabel war zu kurz. Also stellte sie die Mühle auf den Teppich, steckte sie ein und schüttete Bohnen in die Maschine. Kniend mahlte sie Kaffee und entblößte dabei ihre wohlgeformten Beine und Füße.
Bald war der Raum erfüllt von angenehmem Kaffeeduft. Sie schenkte ihm eine Tasse ein, legte einen kleinen Löffel für Zucker daneben und stellte sie zusammen mit der Milch auf das Beistelltischchen. Dann holte sie noch ein Stück Kuchen aus dem Kühlschrank.
»Und was ist mit Ihnen?« fragte er.
»Ich vertrage abends keinen Kaffee. Ich werde ein Glas Wein trinken.«
Sie schenkte sich den Weißwein selbst ein. Statt sich neben ihn auf die Couch zu setzen, ließ sie sich wieder auf den Teppich nieder.
Während er an seiner Tasse nippte, fragte er sich, ob er ihr Angebot hätte ausschlagen sollen. Es war spät. Sie waren allein in ihrem Zimmer. Aber die Ereignisse des Tages waren zu viel für ihn gewesen. Er mußte reden. Nicht nur als Polizist, sondern als Mann – und zwar mit einer Frau, deren Gesellschaft er genoß.
Er hatte das Hotelzimmer gründlich durchsucht und keine verborgenen Mikrophone oder Videokameras entdeckt. Eigentlich müßten sie hier sicher sein. Dennoch hatte er seine Zweifel, nach allem, was an diesem Tag geschehen war und was Parteisekretär Li über die Innere
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