Die Frau mit dem roten Herzen
ihre Waren zusammenraffen, Ladenbesitzer eilig die Rolläden herunterlassen und Menschen mit großen Plastiktüten auf dem Rücken davonrennen. Goldamsel sprang von ihrem Barhocker, tauchte den Laden in düsteres Halbdunkel, indem sie einen Schalter umlegte, und zerrte an ihrem Aluminiumrolladen. Aber es war zu spät, Zivilbeamte stürmten bereits das Geschäft.
Was er befürchtet hatte, bestätigte sich.
Man war ihnen gefolgt. Zweifellos mit Hilfe von Insider-Informationen. Andernfalls hätten die Sicherheitskräfte nicht so schnell zur Stelle sein und den Weg gerade in diesen Laden finden können. Sie hatten einen Tip bekommen. Vermutlich über jenes hellgrüne Handy. Der Informant mußte angenommen haben, daß Chen und seine amerikanische Begleiterin sich noch im Laden aufhielten. Wäre er nicht mißtrauisch geworden, dann hätte man sie zusammen mit Goldamsel festgenommen. Catherines Status als U. S. Marshai hätte für ernsthafte Schwierigkeiten gesorgt. Und Chen hätte sich eines schweren Vergehens gegen die Regeln für auswärtige Kontakte schuldig gemacht. Die Existenz eines solchen Straßenmarktes war ein politischer Schandfleck. Er hätte die Amerikanerin nicht hierherbringen dürfen, noch dazu, wo sie mit einem so sensiblen Fall befaßt waren. Eine Suspendierung wäre das mindeste, was er daraufhin zu erwarten hätte.
Steckten die Fliegenden Äxte hinter dieser Aktion – wie auch hinter den übrigen »Unfällen«? Er fragte sich, wie eine Geheimgesellschaft aus Fujian, die nie zuvor über die Grenzen ihrer Provinz hinaus aktiv geworden war, plötzlich so erfolgreich in Shanghai operieren konnte.
Doch es gab noch eine andere Erklärung. Einige Leute innerhalb des Systems wollten ihn schon lange loswerden. Das war auch der Grund, warum der Bericht der Inneren Sicherheit über die »Halsbandaffäre« den Weg in seine Personalakte gefunden hatte. Womöglich hatte man ihm diesen Fall nur deshalb übertragen, damit er sich mit einer attraktiven amerikanischen Beamtin kompromittierte. Allerdings würde es Folgen haben, wenn herauskäme, daß man einen international so wichtigen Fall dazu mißbraucht hatte, um ihn abzuservieren. Schließlich hatte er Verbündete auf höchster Ebene.
Da berührte Catherine ihn sanft am Arm. »Schauen Sie …«
Goldamsel wurde eben aus ihrem Laden abgeführt. In Handschellen, mit zerzaustem Haar und Schrammen im Gesicht wirkte sie nicht länger jung und unternehmungslustig. Ihr Oberteil war zerknittert, ein Träger hing ihr von der Schulter, und sie mußte in der Aufregung ihre Sandalen verloren haben, denn sie trat barfuß auf die Straße hinaus.
»Haben Sie gewußt, daß die Polizei kommen würde?« fragte Catherine.
»Nein, aber während sie sich die Armbanduhren angesehen haben, bemerkte ich draußen einen Zivilbeamten.«
»Sind die unseretwegen gekommen?«
»Schon möglich. Wenn man hier eine Amerikanerin mit ihren Einkäufen schnappt, könnte das eine politische Trumpfkarte sein.«
Über seine weiteren Vermutungen konnte er mit ihr nicht sprechen. Er bemerkte das Mißtrauen in ihrem Blick.
»Wir hätten das Geschäft doch auch auf normale Weise verlassen können«, bemerkte sie skeptisch. »Warum das Drama mit der Umkleidekabine und die Flucht durch den Regen?«
»Ich wollte, daß es so aussah, als befänden wir uns noch hinter dem Vorhang.«
»Aber so lange«, sagte sie und errötete unwillkürlich ein wenig.
Plötzlich meinte er, eine vertraute Gestalt mit einem Funksprechgerät in der Menge zu erkennen. Aber es war nicht Qian, sondern der Mann mit dem hellgrünen Handy, der unmittelbar nach Qians Anruf vor dem Moscow Suburb aufgetaucht war.
Ein Gast am Nebentisch, ein Mann in mittlerem Alter, deutete mit dem Finger auf die junge Verkäuferin und sagte laut: »So ein ausgelatschter Schuh!«
Goldamsel mußte in eine Pfütze getreten sein, denn ihre nackten Füße hinterließen eine Reihe nasser Spuren auf dem Pflaster.
»Was meint er damit?« fragte Catherine verwundert. »Sie trägt doch gar keine Schuhe.«
»Das ist ein umgangssprachlicher Ausdruck für leichte Mädchen oder Prostituierte, ein ausgelatschter Schuh, in den schon viele geschlüpft sind.«
»Hat sie denn was mit Prostitution zu tun?«
»Ich weiß es nicht. Der Straßenhandel ist illegal, also stellen sich die Leute alles mögliche vor.«
»Wird sie ernsthafte Schwierigkeiten bekommen?«
»Ein paar Monate oder Jahre kann das schon kosten. Das hängt von der jeweiligen politischen
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