Die Frau mit dem roten Herzen
schwang
ein Herz aus roter Pappe, in das sie
einen Jungen und ein Mädchen geschnitten hatte,
das Schriftzeichen »loyal« zwischen sich haltend –
loyal gegenüber dem Großen Vorsitzenden.
Der Frühling der Kulturrevolution wehte
durch ihre Finger. Ihr Haar wallte
in das dunkle Auge der Sonne.
Ein Sprung, und ihr Rock
blühte auf, und das Herz
sprang ihr aus der Hand, flatterte
wie ein aufgeschreckter Fasan. Ein Fehltritt –
ich eilte ihr zu Hilfe, als sie es wieder fing –
und zugleich die Vollendung ihrer Show. Die Menge tobte. Ich erstarrte.
Sie nahm mich bei der Hand,
winkte, unsere Finger verschmolzen ineinander,
als wäre ich Teil des Auftritts, als fiele
der Vorhang vor der Welt,
ein weißes Stück Papier,
und vor ihm leuchtete das rote Herz,
und ich war der Junge darin und sie das Mädchen.
»Die besten Finger«, nickt der Werkstattleiter.
Sie ist es, kein Zweifel.
Doch, was soll ich sagen.
Ich sage mir, was man eben so sagt,
daß die Dinge sich wandeln
laut einem Sprichwort,
wie das azurblaue Meer in einen Maulheerwald.
Oder daß die Jahre verfliegen – im Zug einer Zigarette.
Hier ist sie, verändert und doch
dieselbe, ihre Finger
eingetaucht in grüne Schmirgelpaste,
jungem Bambus gleich, der lange im
Eiswasser liegt, sich der Vollendung
entgegenhäutend. Nur einmal
hebt sie ihre Hand, um sich den Schweiß
von der Stirn zu wischen, und hinterläßt dort
eine fluoreszierende Spur. Sie
erkennt mich nicht – obgleich
ich ein Namensschild der Wenhui-Zeitung
an der Brust trage.
»Keine Geschichte wert«,
sagt der Werkstattleiter.
»Eine von vielen,
eine gebildete Jugendliche, die selbst
zur ›Bäuerin der armen unteren Mittelklasse‹ wurde.
Ihre Finger – kräftig wie ein Schleifstein –
polierten mit revolutionärem Bewußtsein
den Geist unserer Gesellschaft auf Hochglanz.
Wenn das nicht für die Überlegenheit des
Sozialismus spricht!«
Und so kam jene zentrale Metapher
in meinen Bericht.
Eine smaragdgrüne Schlange
kriecht über die weiße Wand.
»Ein trauriges Gedicht«, murmelte sie.
»Ein gutes Gedicht. Leider kann die Übersetzung dem Original kaum Genüge tun.«
»Die Sprache ist klar und der Inhalt deutlich. Ich wüßte nichts an der englischen Version auszusetzen. Sie hat mich sehr berührt.«
»›Berührt‹ ist wohl das richtige Wort. Es war nicht einfach, äquivalente englische Ausdrücke zu finden. Das Gedicht stammt von Liu Qing.«
»Von wem? Liu Qing?«
»Wens Klassenkamerad – ihr Bruder Lihua hat ihn erwähnt, jener Senkrechtstarter, der das Klassentreffen finanziert hat.«
»Ach ja. ›Das Rad des Schicksals dreht sich schnell‹. Zhu hat auch von ihm gesprochen, sie sagte, in der Schulzeit sei er ein Niemand gewesen. Warum ist ein Gedicht von ihm plötzlich so wichtig für uns?«
»Ich glaube, ich hatte erwähnt, daß in Wens Haus eine Gedichtanthologie gefunden wurde.«
»Es steht in der Akte, ja. Moment mal, die revolutionäre Poliererin, die kommuneeigene Fabrik, die Arbeiterinnen, die mit den Fingern polieren, und Lili …«
»Da sehen Sie. Deshalb wollte ich heute abend mit Ihnen über das Gedicht sprechen«, sagte er. »Nachdem wir uns getrennt hatten, habe ich Yu angerufen. Lius Gedicht steht in dieser Anthologie, und Yu hat mir eine Kopie davon gefaxt. Das Gedicht wurde vor fünf Jahren zunächst in einer Zeitschrift namens Sterne veröffentlicht. Liu arbeitete damals als Reporter bei der Wenhui-Zeitung. Wie das lyrische Ich des Gedichts schrieb auch er einen Artikel über die Modellfabrik der Kommune in Changle, Provinz Fujian. Ich habe eine Kopie seines Berichts.« Er zog ein Blatt aus seiner Aktenmappe. »Aber das ist Propaganda. Ich hatte keine Zeit, es zu übersetzen.«
»Nur wenige Buchläden in den großen Städten verkaufen heutzutage Lyrikbände. Es ist kaum vorstellbar, daß sich eine arme Bauersfrau in ihrem Dorf ein solches Buch gekauft hat.«
»Glauben Sie, daß das Gedicht eine wahre Begebenheit erzählt?«
»Schwer zu sagen, wieviel daran wahr ist. Der Besuch in Wens Fabrik war, wie in dem Gedicht angedeutet, offenbar ein Zufall. Aber Liu benutzte in seinem Zeitungsartikel dieselbe Metapher – eine revolutionäre Poliererin, die den Geist der sozialistischen Gesellschaft auf Hochglanz poliert. Vielleicht war das ein Grund, warum er seinen Job an den Nagel gehängt hat.«
»Warum? Er hat doch nichts Unrechtes getan.«
»Er hätte kein solches politisches Geschwafel schreiben sollen,
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