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Die Frequenzen

Die Frequenzen

Titel: Die Frequenzen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clemens J. Setz
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Urinstrahl von der Form einer durchgebogenen Angelrute und er grinst über sich selbst:
Ha, das bin ich, tatsächlich ich, mein dummes Grinsen
.
    Und ganz zuletzt dieses junge, konzentrierte Gesicht, spätnachts. Das Licht geht an im Hintergrund.
    – Bist du im Bad?
    – Ja.
    – Was machst du … weißt du, wie spät …?
    Er drückt mit seiner Hand müde in seinem Gesicht herum, findet endlich die Augen, reibt.
    – Geh ruhig wieder schlafen, sagt sie. Ich hab was im Auge.
    – Was?
    – Was im Auge.
    – Und?
    – Und es tut höllisch weh.
    – Ach so. Lass mich dir helfen … warte …
    Aber seine Bewegungen sind noch verschlafen und grob, auch scheinen seine Hände für ihr schmales Gesicht viel zu groß, seine Finger spinnenartig und zittrig. Er tastet auf ihren Wangenknochen herum.
    – Lass mich, ich kann’s schon selbst.
    Sie wendet sich wieder ihrem Spiegelbild zu. Er verschmilzt augenblicklich mit dem Hintergrund, wie Tiere bei Nacht, verschwindet im dunklen Wohnzimmer.
    – Soll ich dir wirklich nicht helfen?
    – Nein, sagt sie, ich mach schon … Und sonst, auch egal. Wenn ich’s nicht rausbekomme. Warten wir eben ein Jahr … oder zwei … und dann hab ich eine Perle …
    – Was?
    – Eine Perle. Die darfst du dann ernten.
    Er erscheint noch einmal in der Badezimmertür, aber er sieht nicht so aus, als hätte er ihren Satz verstanden. Schade, denn es war ein sehr hübscher Satz, denkt Lydia. Das Beste, was sie heute Abend von sich gegeben hat. Unschlüssig betastet er den Türrahmen, als wollte er sagen:
Hier irgendwo muss ich durchgekommen sein, auf meinem Weg hierher
. Dann wankt er zurück in die Dunkelheit und träumt weiter.
    Wie alle Glühbirnen auf diesem Planeten so sind auch alle Badezimmerspiegel miteinander verbunden, man könnte auch sagen: vernetzt.
    Noch immer etwas durchgefroren von meinem Heimweg durch die winterliche Stadt, stand ich in der Dunkelheit und betrachtete mein fast unsichtbares Spiegelbild, und Lydia plätscherte in dem vom Warten bitter gewordenen Badewasser.
    – Es tut mir leid, sagte ich leise.
    Ein kurzes Plätschern war die Antwort. Lydia stieg aus der Wanne. Meine Augen hatten sich bereits ein wenig an die Dunkelheit im Bad gewöhnt und ich wurde Zeuge eines seltsamen Bildes: Lydia kratzte sich auf der nackten Brust, sogar recht heftig, das lange Liegen im Wasser musste ihre Haut gereizt haben. Die Brustwarze schlüpfte zwischen Zeige- und Mittelfinger hindurch.
    – Idiot, sagte sie und ging an mir vorbei ins Wohnzimmer. Du hättest anrufen können.
    – Hab ich doch.
    – Ja. Einmal.
    Ich folgte ihr ins Wohnzimmer und trat mit meinen Socken in ihre feuchten Fußspuren.
    Als ich Lydia kennen gelernt habe, hatte sie ihre schlimmste Zeit bereits hinter sich. Begonnen hatte esmit sechzehn. Sie fühlte sich in ihrem Körper nicht mehr wohl. Die Wangen waren eingefallen, ihr Hintern war zu fett, alles an ihr war zweitrangig und unangenehm. Eine von der Natur im Scherz gemachte Kopie einer hübschen Frau. Sie stand vor dem Spiegel und hasste sich, hasste den Spiegel, dann wieder sich. Langsam, je länger sie sich anstarrte, verwandelte sie sich in ein Monster. Manchmal trieb sie dieses selbstzerstörerische Geduldspiel so lange, bis sie ihr eigenes Gesicht gar nicht wiedererkannte. Es war dann das Gesicht einer scheußlichen Puppe aus einem anderen Jahrhundert.
    Sie hatte mit dem Spiegel einen Pakt geschlossen, so wie andere Leute einen Pakt mit dem Teufel eingehen.
    Anfangs schminkte sie sich sehr stark, dann half auch das nichts mehr. Sie rasierte sich den Kopf, aber das Haar wuchs nach. Sie begann abwechselnd alles in sich hineinzustopfen und zu hungern. Gott sei Dank hatte sie in einem hellsichtigen Moment ihrer frühen Kindheit eine Panik vor dem Erbrechen entwickelt; sie blieb vor Bulimie verschont. Aber ihr Kreislauf litt unter den ständig schwankenden Essgewohnheiten, und sie konnte sich bald auf nichts mehr konzentrieren. Sie musste eine Klasse wiederholen. Diese Erfahrung warf sie endgültig nieder. Unheimliche Träume drängten sich in ihr Leben, konfrontierten sie mit einem Haufen unverständlicher Drohungen und ließen sie mit der Qual der Deutung allein, ohne irgendeinen Hinweis auf ihre Entschlüsselung. Sie suchte Rat bei Therapeuten, von denen die meisten professionell-unbeholfen mit ihr umgingen. Einer ließ sie kleine Papierflieger bauen und leitete aus der Form der flugunfähigen Gebilde allerhand ab. Ein anderer veranstaltete Hypnosespiele, bei

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