Die Frequenzen
Satz, der sich in den eigenen Schwanz biss wie eine dieser metaphysischen Schlangen auf Amuletten.
In der ersten Zeit unserer Beziehung träumte ich eines Nachts, dass ich sie besuchen ging. Aber anstelle ihrer Zimmertür war da eine große vakuumversiegelte Spezialtür. Man erklärt mir, dass Lydia ab heute in einem Bunker wird leben müssen, eineinhalb Kilometer unter dem Erdboden. Ich frage, warum. Ich beginne einen Streit mit den Wachmännern, die, wie sich herausstellt, gar keine Wachmänner sind, sondern einfache Handwerker (aber wozu dann die Pistolen an ihren Gürteln?), die das Ziffernschloss an der Tür einstellen sollen. Eine neue Kombination muss gefunden werden, etwas, das Lydia niemals herausbekommen wird.
Ehe ich’s mich versehe, mache ich einen Vorschlag.
Einer der Männer sieht mich verblüfft an; ich schäme mich sofort. Sein Blick sagt:
Sieh an, zuerst kommt er, um sie zu besuchen, und weil das nicht geht, will er mithelfen, ihr ein ewiges Mausoleum zu bauen. Sieh an
.
Die Männer gehen nicht auf meinen Vorschlag ein. Ich bin erleichtert. Sie werfen sich abwechselnd lange Ziffern zu, wie die berühmten Primzahlzwillinge. Und vielleicht sind es auch Primzahlen. Ich frage:
Sind das Primzahlen?
Derselbe Wachmann/Handwerker/Richter wie vorher schlägt mit einem Hammer auf etwas vor ihm in der Luft, als wollte er zur Ruhe ermahnen, und blickt mich durchdringend an. Diesmal sagt sein großes rotes Gesicht etwas wie:
War das gerade Höflichkeit? DU willst zu MIR höflich sein? Hab ich mich verhört? Wie tief willst du eigentlich sinken?
Ich flüchte, gehe schnell den Gang hinunter, durch den ich gekommen bin, Richtung Ausgang. Als ich mich noch einmal umblicke, sind die Männer schon nicht mehr zu sehen, denn Zimmereinrichtung, Möbel, Wandspiegel und schwebende Töpfe mit üppig überfließenden Hängeschopflilien haben den Korridor hinter mir völlig zugewuchert.
Das ist das Ende
, denke ich,
das Ende, oh mein Gott
–
Aber das Ende ist erst jetzt in Sicht. Lydia ist ausgezogen und kommt nur manchmal vorbei, um mich und meine Wohnung zu kommentieren.
Ich verabschiede mich von Martina, indem ich sie auf einen Kaffee einlade. Sie sagt, sie sei mit jemand anderem zusammen, letzten Winter, damals, das sei nur …– eine ausweichende Geste vollendet den Satz.
– Sicher, sage ich. Ich hab das auch nicht anders gesehen. Aber …
– Nein, sagt sie.
– Nein? Zu was?
– Nein zu dem, was du mich fragen wolltest.
Zur Untermauerung ihres Standpunkts stellt sie die Kaffeetasse auf den Tisch, aber sie lässt ihren Mittelfinger in dem Henkel stecken.
– Bist du nicht auch … wie war ihr Name?
– Lydia. Nein, nicht mehr.
Der Mittelfinger löst sich von der Tasse.
– Aber du warst doch ziemlich lange mit ihr zusammen, oder?
– Ja.
– Wie habt ihr euch kennen gelernt?
– Na ja, dazu müsste ich weit ausholen … Ungefähr so!
Ich imitiere die beschworene Geste, als würde ich mit der Faust zu einem Schlag ausholen, und Martina zuckt zusammen. Sie stößt mit ihren Knien von unten an die Tischplatte, dass es klirrt.
Ein Weltbürger ohne Welt
Walter fand in seinem alten Kinderzimmer einen verstaubten Nussknacker und steckte ihm kurzerhand einen Finger in den Rachen, als wollte er ihn dazu bringen, sich zu übergeben. Zum Spaß machte er ein paar Würgegeräusche. Dann verlor er das Interesse und stellte den Nussknacker vor sich auf den kleinen Schreibtisch, an dem er vor vielen Jahrhunderten seine Hausaufgaben gemacht hatte.
Im Grunde interessierte ihn sein altes Zimmer nicht, aber er wollte heute nicht mehr nach unten gehen. Er hatte Angst, dass mit der obligatorischen Klärung der Frage, was diese
Frauengeschichte
gewesen sein mochte (Mirja war ein unverbesserliches Plappermaul), auch die älteste aller alten Leiern wieder losgehen würde – der Beruf. Er hatte seinen Eltern nicht einmal erzählt, unter welchen Umständen er als Schauspieler gearbeitet hatte. Schon allein die Vorstellung, ihnen das alles erklären zu müssen, jagte ihm eine Gänsehaut über den Rücken.
Er betätigte den Brunnenhebel des Nussknackers.
– Mamamama, sagte der Nussknacker lautlos.
Für seinen Vater, einen bekannten Architekten, hatte es nie einen Zweifel gegeben, dass Walter ein hochbegabtes Kind war. Seit er die Schule beendet hatte, musste er alle paar Jahre zähe Zukunftsgespräche über sich ergehen lassen, weil sein Vater es einfach nicht lassen konnte, ihn für diverse Praktika und Stipendien
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