Die Frequenzen
ihrer Gegenwart wird er für ein paar Augenblicke wieder kindlich, hilflos und blind, er erfindet Geschichten, wahre Begebenheiten mit einem erfundenen Ende, das ihn selbst überrascht und friedlich stimmt. Wenn es spät wird, leistet er sich ein oder zwei obszöne Ausdrücke und lacht. Er lässt sich von der Frau mehrmals bestätigen, dass dies alles sein Zuhause ist, diese Wände, dieses Klavier, diese Wohnzimmergarnitur, dieses verstaubte Ahnenporträt, dieser erloschene Kamin. Er lächelt über ihre weibliche Ungeschicktheit, wenn sie auf der TV-Fernbedienung eine zweistellige Kanalnummer eingeben soll. Dann, sehr spät, im Schlafzimmer, überwältigt er sie, als sie einen Augenblick nicht aufpasst. Er schlägt ihr auf die Hinterbacken und riecht begeistert an seiner Hand. Die ganze Nacht wandern die fächerförmigen Streifen von Autoscheinwerfernlangsam über die Wand. Im Nebenzimmer liegen die Kinder und schlafen. Auch seine Frau ist vor Erschöpfung eingeschlafen, nachdem er mit ihr fertig war. Aber er, ein tragischer Fels der Einsamkeit, liegt lange wach, neben ihm schnarcht das geliebte Geschöpf, und er sagt sich, dass er dies alles geschafft hat. Am nächsten Morgen verschwindet er wieder, kurz bevor die Sonne aufgeht. Sein Leben ist ein ständiges Sich-Zurückziehen aus der einen in die andere Welt. Hoffnungslose Bewegungen eines Pendels. Keines seiner Verstecke verbirgt ihn jemals vollständig. Wenn er an sich denkt, findet er seine ganze Existenz tragisch. Er tätschelt zweimal die von Augenringen beschatteten Wangen seiner Frau und verlässt das Haus. Die Welt der Hausfrau hingegen ist dazu verdammt, fiktiv und völlig beliebig zu bleiben. Niemand sieht, was sie zu Hause macht und mit welchen Dingen sie allein gelassen wird. Ihre Welt ist eine ohne Zeugen. Es gibt sie im Grunde gar nicht, es sei denn, ihr Haus geht irgendwann einmal in Flammen auf und Nachbarn kommen und schauen durch das brennende, zerfallende Gebälk in die Geheimkammern der Ehe. Es sei denn, sie lässt eines Tages irgendeinen spitzen Gegenstand in die Wiege fallen, in der ihr Kind schläft. Wenn Gott existiert, wird dem Kind nichts passieren, und die Waffe findet sich am nächsten Morgen, sauber und blinkend, neben dem gesunden Baby.
Walter hatte sich die Zähne geputzt. Das Gesicht ganz nahe am Spiegel, betrachtete er die Gänsehaut auf seinem Unterarm. Er kannte sonst niemanden, der auf Kommando Gänsehaut erzeugen konnte. Allerdings nur auf den Armen. Er stellte sich einfach vor, er säße als vierzigjähriger Mann unter einer Kniedecke mit Schottenmuster abends in einem Schaukelstuhl und seine Frau brächte ihm das rosafarbene Baby für einen Gutenachtkuss.
Sag Papa schön Gute Nacht
.
Lydia
Jede Geschichte aus der Sicht eines Badezimmerspiegels ist eine Liebesgeschichte.
Die vorsichtigen Bewegungen des Rasierapparats auf dem Gesicht, dessen Blick kritisch auf sich selbst gerichtet ist. Salben, Entzündungen. Geplatzte Adern im Auge wie winzige Flussdeltas. Grimassen. Seemannsbärte aus Seifenschaum. Die schwarzen dünnen oder roten dicken Striche, mit denen einsame Comicfiguren am Morgen seufzend ihre Konturen nachziehen. Paare, die sich beim Liebesspiel selbst beobachten. Bei der Verwandlung in einen Vertreter des anderen Geschlechts. Das ungläubige Starren spätnachts, wenn der normale Hausverstand sich von einem geheimnisvollen Novizen mit Tonsur und langen, schwarz gefärbten Fingernägeln vertreten lässt. Die Schrift, die immer wieder erscheint, wenn jemand ein heißes Bad nimmt, eine unnötig oft wiederholte Botschaft, ein sinnloses Wort, achtlos hingeschrieben, etwa:
Hallo
, oder:
Fuck
, oder:
Spiegel
, oder noch besser:
Geisterschrift
– ein Zugeständnis an die Selbstreferenzialität, die in allen Romanen vorhanden zu sein hat.
Unerklärliche Szenen etwas speziellerer Art: Zwei Menschen, er in ihrem Bademantel (der in einem früheren Leben ein Priestergewand gewesen ist), sie nackt und meerschaumgeboren (auf ihrer Schulter befindet sich noch ein weißer Rest Schaum), und er ist gerade noch vor ihr gekniet, jetzt spült er sich den Mund aus und sie sieht ihm dabei zu, ungläubig, voller Unverständnis: Bin ich wirklich so ekelhaft, bin ich unhygienisch? Das Balancierspiel mit den Kontaktlinsen, der Kampf gegen die nervös flatternden Augenlider, die blind zuschnappen wie dieMäuler kleiner, verängstigter Tiere. Der Mann, der sich im Spiegel betrachtet, während er pinkelt. Aus seinem Körper ragt ein kräftiger
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