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Die Frequenzen

Die Frequenzen

Titel: Die Frequenzen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clemens J. Setz
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getränkt mit einer warmen Flüssigkeit. Sein Herz ist ein knisternder Strohstern. Er hört Melodien, die er schon längst vergessen geglaubt hat.
    In den frühen Morgenstunden träumt er von einer weißen Kathedrale mitten in der Wüste. In dieser Kathedrale wird eine heilige Reliquie aufbewahrt, der Wunderkräfte nachgesagt werden. Es handelt sich um getrocknetes Stroh, das mit schwarzen Bändern zu einer kugeligen Menschenfigur zusammengebunden worden ist. In dem Stroh verbirgt sich die Asche eines alten christlichen Märtyrers. Beim Hochheben knistert die staubtrockene Reliquie, und der Priester schaukelt sie in seinen Armenwie ein Neugeborenes. Georg kniet vor der Reliquie nieder. Man hat ihm erklärt, dass er den mit heiliger Asche gefüllten Strohmann mit beiden Händen berühren und anschließend die Fingerspitzen zum Mund führen muss, um an der heilsamen Wirkung teilzuhaben. Er versucht es – aber die Strohpuppe zerfällt schon bei der ersten Berührung. Grauer Staub rieselt aus ihr, wirbelt auf, er wischt sich die Augen – rund um ihn beginnen die Menschen zu schreien, sie halten seine Hände fest, um ihn daran zu hindern, sich die Asche weiter ins Gesicht zu schmieren. Aber er muss es doch tun, die Asche brennt ihm sonst in den Augen! Er ringt eine Weile mit den fremden Menschen, dann wacht er auf und ertappt seine linke Hand dabei, wie sie seine rechte umklammert hält, als wollte sie sie erwürgen. Er lässt los.
    Loslassen ist das Prinzip. Immer schon gewesen. Man lässt los, wenn einem das Schicksal eine günstige Gelegenheit bietet, an einem gleißend kalten Wintertag, allein in einem Wagen, der gerade erst von den Toten zurückgekehrt ist. Man lässt los, schneidet die Schnur durch und fährt davon, denn anders würde man es nicht übers Herz bringen. Es braucht eine Sekundenentscheidung, eine Eingebung, eine spontane Selbstentzündung, man lässt einfach den Fuß entscheiden, den Fuß auf dem Gaspedal, und das Pedal merkt, dass etwas Ungewöhnliches vor sich geht, und leistet Widerstand, was den Fuß nur noch mehr anstachelt, und der Rücken leidet währenddessen wie nie zuvor, brennt, jagt dissonante Schmerzakkorde durch die Wirbelsäule, ein bitterer Vorgeschmack der Tage, die noch kommen –

    – Entschuldigen Sie, was haben Sie da eben gesagt?
    – Das mit seiner Hand? Ja, das hat er oft gemacht. Ich weiß auch nicht, was das zu bedeuten hat. So eine Art Krampf, von Zeit zu Zeit. Aber ich glaube –
    – Nein, nein, vorher.
    – Was? Der Traum? Ja, das ist witzig, weil er mir immer lang und breit erzählt hat, was er geträumt hat. Da war er richtig … richtig dogmatisch, könnte man sagen.
    – Okay …
    – Einmal zum Beispiel –
    – Nein, davor, Sie haben gesagt,
der eigentliche Grund

    – Ach das. Ja. Das war das, was er mir immer gesagt hat. Der eigentliche Grund, sich von der Familie zu trennen, war seine Krankheit. So hat er’s mir immer erklärt. Er wollte nicht irgendwann als Pflegefall enden, der auf die Hilfe seiner Familie angewiesen ist. Die einzige Hilfe, die er akzeptiert hat, ist
fremde
Hilfe.
    – Ich … Oh! Das tut mir leid, ich –
    – Ach, ist schon in Ordnung. Gott sei Dank ist der Kaffee in Cafeterias immer nur lauwarm.
    – Warten Sie, ich hole Ihnen eine Serviette.
    – Ist doch nur das Knie. Kein Problem. Wo waren wir stehen geblieben?

    Und irgendwann ist es drei Uhr morgens, und sie sind beide hellwach vor lauter Schlafbedürfnis und geistern unruhig in der Wohnung umher. Und sie reden von ihren Familien, die fern sind, die eine im zeitlichen, die andere mehr im örtlichen Sinn. Sie kommen zu dem Schluss, dass die zeitliche Dimension stärker ist. Wolfgang sagt etwasSimples, Versöhnliches, um sich selbst zu beruhigen, etwas wie:
Im Leben muss man sich immer anstrengen, um Distanzen zu überwinden
.
    – Weißt du, fragt Georg ihn, was diese elenden Zen-Meister, diese fürchterlichsten aller Diktatoren machen, wenn sie auf ihre Schüler aufpassen? Nein? Sie schlagen sie mit einem Bambusstock, egal, was die Schüler tun. Oder nicht tun. Wenn die Schüler etwas falsch machen, schlagen sie sie, wenn die Schüler alles richtig machen, schlagen sie sie auch. Und das nicht einmal besonders sanft. Ziemlich fest, direkt auf die Schultern, zuerst links, dann rechts. Manchmal sogar auf den Kopf.
    Plötzlich steht Georg auf und schleppt sich an den Schreibtisch. Er schaltet die kleine Lampe ein, und ihr helles, irres Licht ergießt sich über seine Hände, seine

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