Die Frequenzen
Er hat sich oft lange nicht beruhigt. Dann hat er mir immer richtig leid getan. Auch wenn ich manchmal mit ihm geschimpft habe, wenn sein Selbstmitleid zu stark geworden ist.
– Aha.
– Ich hab ihm sogar geraten, er soll wieder zurückgehen zu seiner Familie. Ich weiß, das war ein schwerer Entschluss für ihn, aber so bin ich nun mal, ein Friedensstifter von Natur aus. Einmal hat er mir deswegen aufs Ohr geschlagen.
– Was?
– Ja, wirklich, aufs Ohr. Es wird einem sofort schwarz vor Augen und der Gleichgewichtssinn spielt verrückt. Ich hab zehn Minuten überhaupt nicht mehr aufstehen können. Wenn er Angst hatte, konnte er fürchterliche Kräfte entwickeln.
Zweiter Eindruck
Wolfgang. Ein erdiger, fetter, dunkelbrauner Name. Das W färbt ihn braun, so wie ein V Wörter in der Regel blau macht. Trotz seines hübschen Namens spielt er in meinem Bericht eine untergeordnete Rolle. Er ist so etwas wie ein fleischgewordener Vorwand, eine lächerliche Attrappe, eine Hilfskonstruktion, ein dressierter Hund, der eine notwendige Wissenslücke ausfüllen darf, indem er ein unentwirrbares Knäuel aus Geschichten apportiert. Auf diese Dienerrolle habe ich ihn heruntergeschraubt, brutal, wie ich zugeben muss, obwohl er mir nie etwas getan hat, im Gegenteil, obwohl er den weiten Weg vom Eingangsbereich der Cafeteria bis zu mir, in meine Enklave an der Seite der großen Panoramafenster, auf sich genommen hat – nur um mir das alles zu erzählen. Obwohl er
Wolfgang
heißt, also einen Namen hat, der auf beiden Silben betont wird, und einen Ohrring trägt. Obwohl er da noch immer vor mir sitzt und mich mit aufrichtigen braunen Wolfsaugen von unten anstarrt, während er seine Geschichte loswird, Stück für Stück.
Und er macht es nicht einmal schlecht, achtet auf die wichtigen, die suggestiven Details, beschreibt die jeweiligen Umstände, motiviert alle Handlungen hinreichend, so dass man die betreffende Figur schmerzhaft lebensecht vor sich sieht und sich wünscht, man wäre in diesem Augenblick irgendwo anders, in einer stillen Bücherei, auf einem Jazzkonzert oder zuhause in der Badewanne. Er kann das ganz gut, muss man zugeben. Er reiht einfach Anekdoten aneinander, verzichtet auf Übergänge oder einen roten Faden, an dessen Spiralverläufen man vielleicht irgendein allgemeines Weltgesetz erkennen könnte, wie zum Beispiel,dass es unmöglich ist, in dieser Welt zu leben, ohne sich selbst auszuquetschen wie eine Zahnpastatube, oder dass man eigentlich nichts mehr mit Worten sagen kann, weil alles schon einmal da gewesen ist, oder dass sowieso alles unsagbar geworden ist – eine dieser unerträglichen Halbweisheiten eben, von denen es ohnehin viel zu viele gibt. Genau darauf hat er verzichtet, konzentriert sich stattdessen auf einzelne Momente, wie das Zurückschnellen des verbrannten Fingers – und den verdutzten, leicht beleidigten Gesichtsausdruck meines Vaters, während er an ihm lutscht. Bestimmt hat er lange für diesen Auftritt geübt, hat sich die Episoden wieder und wieder im Geiste aufgerufen, um auch ja alles richtig zu machen. Möglich auch, dass irgendwo, versteckt in einer Schublade, ein Rohentwurf für diesen unangenehmen Nachmittag hier in diesem schlecht beleuchteten Winkel eines leeren (
mauseleeren
) Krankenhauses existiert. Mit Regieanweisungen und alternativen Szenarios. Plan B. Plan C. Für den Fall, dass ich ihn plötzlich mit einem Messer attackiere. Für den Fall, dass ich ihm seine Trillerpfeife vom Hals reiße, mir in den Mund stecke und hinunterschlucke. Für den Fall, dass ich nicht weiß, von welchem sonderbaren Menschen er spricht.
Georg
wer
?
Und nicht zuletzt wollte er mich mit seiner Geschichte beeindrucken. Ich kann ihn sehr gut verstehen.
Aber trotz all dieser Vorzüge werde ich Wolfgang nur diese Hilfsrolle spielen lassen: Er darf die Geschichte meines Vaters im Exil erzählen, dann muss er wieder verschwinden.
Raus. Danke für Ihren Besuch, wir melden uns dann
.
Er sitzt vor mir, seine Geschichte ist fertig, und seine Finger sind nervös. Sie spielen mit einem kleinen Strohhalm,lassen ihn kreisen wie den Flügel einer winzigen Windmühle. Über uns befindet sich die einzige Lampe in diesem Raum, sie hat keinen Lampenschirm. Auch das ein Bild, an dem ich ihm keinen Anteil zugestehe. Denn er blickt niemals in die Höhe.
Wir sitzen da, schweigen.
Also gut. War’s das? Das letzte Bild? Mein Vater, wie er um sein Leben jammert.
War’s das?
Ja, das war’s. Okay. Also, hast du
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