Die Frequenzen
meinen Lesern noch irgendetwas mitzuteilen, egal was, eine kleine Lebensweisheit, einen Aphorismus?
Pause. Der Strohhalm dreht sich immer noch.
– Das ist jetzt bestimmt alles … nicht so leicht, oder?
– Wie bitte?
– Ich meine, das alles auf einmal zu hören. Dass der eigentliche Grund, warum er –
– Nein, nicht unbedingt, sage ich.
Eine Guillotinenklinge kommt aus dem Nichts und schlitzt ihn auf, nein, verfehlt uns beide, trennt ihm nur die Schiedsrichterpfeife ab. Sie fliegt davon, befreit, eine kleine Drohne, die endlich ihrer Gefangenschaft entkommt. Die Warnung genügt ihm und er erhebt sich, schüttelt meine schlaffe Hand, als wäre sie ein klingelnder Wecker, den man abstellen muss. Er verschwindet, lässt nichts zurück als ein paar Fliegen, die um die nackte Glühbirne über meinem Kopf kreisen, in immer wirreren Bahnen, eine chaotische Miniatur des Sonnensystems.
Im Traum irre ich durch das nächtliche Gebäude meiner alten Schule, auf der Suche nach dem Cockpit. Ich finde es in einer Besenkammer, gleich hinter einem Regal voller Putzmittel. Trotz der späten Stunde ist das Armaturenbrett noch wach und spielt mit seinen Leuchtdioden und Geschwindigkeitsanzeigen. Ein sanft schwirrendes Turbinengeräusch ist zu hören. Der Boden unter meinen Füßen schwankt. Plötzlich stehe ich vor dem Lokal, in dem ich mich mit ihm treffen soll. Ich kenne das Lokal, es trägt den Namen eines berühmten österreichischen Dichters, der schon lange tot ist. Ich stehe vor der Eingangstür im Weg herum. Menschen weichen mir aus, beklagen sich, schieben mich auf die Seite. Ein Mann tritt aus dem Lokal, sieht sich um, ohne mich zu sehen. Ich gehöre nicht zur Umgebung, also bin ich unsichtbar. Er zündet sich eine Zigarette an, und der blasse Widerschein des Feuers flackert kurz über sein Gesicht, am hellsten unterhalb der Nasenspitze. Den Kopf im Nacken inhaliert er den Rauch und hält ihn für einen Augenblick in der Lunge, schaut mit verklärtem Blick wie der heilige Sebastian, die Brust voller Pfeile, dann atmet er aus. Ich gehe ein paar Schritte nach hinten, stoße an etwas. Ich drehe mich um: ein riesiges Pferd, dampfend rot, versperrt den Weg. Was beklagen sich die Leute über mich, denke ich, wenn in Wahrheit dieses riesige Pferd allen den Weg versperrt. So eine Frechheit. Um seinen gewaltigen Hals, der von kräftigen Sehnen durchzogen ist (als hätte es ein Bündel Reisig verschluckt), trägt das Pferd eine Halskrause, die seinem Kopf das Aussehen einer traurigen aristokratischen Blume verleiht. Es kann mich nicht sehen, es sieht nur geradeaus. Leise Grammophonmusik ertönt, ein knisternder Walzer, gespielt von einem Orchester längst verstorbener Musiker.
Hannelore Schnabel hat mir tatsächlich eine handgefaltete Einladung geschickt. Eine Handgranate, die ich zuerst quer durchs Zimmer geworfen habe.
Auf der Einladung steht nichts von einer Hochzeit.
Es handelt sich um eine Einladung zum Abendessen.
Und nur zu Ihrer Beruhigung
, steht da in weiblich zurückhaltender Handschrift, sie selbst, Hannelore, werde dabei gar nicht anwesend sein.
Ich erkannte ihn sofort, als ich das Lokal betrat. Sein Kopf schwebte hinter dem Salatbüffet, reckte den Hals, lächelte. Er winkte mir zu, als ich näher kam (ich kam tatsächlich näher, in der Ferne bellte ein verrückt gewordener Kettenhund), er reichte mir die Hand, drückte ordentlich zu, stand aber nicht auf. Er trug ziemlich alberne schwarzlederne Handschuhe, mit Löchern für Finger und Knöchel, wie Cabrioletfahrer sie tragen.
Ich setzte mich. Ein Kellner landete neben mir, klappte seine Flügel ein und fragte nach unseren Wünschen. Wieder nach Hause. Feueralarm. Einen Baseballschläger bitte.
– Nur ein Glas Wasser, danke.
– Schön, dass du gekommen bist, begann er.
– Bitte warm, wenn es geht, sagte ich zum Kellner. Nicht eiskalt.
– Hanni kommt nach, sagte er.
– Ah.
– Kann man verstehen, oder?
– Sicher, warum nicht.
– Ist dir das unangenehm?
– Nein.
– Okay.
Zeit verstrich und kitzelte uns an den Fußsohlen.
Der Vogelkellner kam und brachte mein Wasser. Ich nahm einen Schluck.
– Wäh, eiskalt!
Mein Vater wartete auf irgendein Zeichen, dann stellte er etwas auf den Tisch. Es war ein kleines Pferd. Es scheute zuerst, dann sprang es über mein Wasserglas und landete mit einer eleganten Drehung auf meiner Nase. Es war nicht leicht, ein Lachen zu unterdrücken. Ein Pferd, so klein, mit winziger Mähne und noch winzigerem
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