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Die Frequenzen

Die Frequenzen

Titel: Die Frequenzen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Clemens J. Setz
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Knöchel, seine Fingernägel. Scharfe, unwirkliche Schatten ragen aus seiner Hand. Er bewegt die Finger, bildet eine Faust, als würde er sich wundern, dass die Haut an den Knöcheln nicht bei der kleinsten Bewegung aufplatzt.
    – Zen-Meister sind die größten Arschlöcher, die es gibt, sagt er. Aber vielleicht gibt es Schlimmeres als das. Zum Beispiel Sandkörner unter den Fingernägeln oder das Geräusch, wenn ein Haus sich ganz leicht nach rechts neigt und das Fundament für immer kaputt geht. Oder Schularbeiten korrigieren und der Stapel wird und wird einfach nicht kleiner, sondern wächst immer nur, wächst, wächst.
    Vor Wolfgangs erstaunten Augen löst sich ein Zeigefinger aus Georgs Hand und wandert wie ferngesteuert, die sonst schlaffe Hand und die restlichen Finger im Schlepptau, auf die leuchtende Glühbirne zu. Der brennende Schmerz reißt sie beide endgültig in die Wirklichkeit zurück. Georg zieht die Luft zischend durch die Zähne ein. Er steht auf und eilt in die Küche, um den Finger unterkaltes Leitungswasser zu halten. Wolfgang geht ihm nach, legt ihm eine Hand auf den Rücken.
    Georg steckt sich die beleidigt pulsierende Fingerkuppe in den Mund und saugt daran. Mit der freien Hand dreht er den Wasserhahn ab und greift sich eine Weinflasche, auf deren Etikett ein Sonderangebotsaufkleber die Jahreszahl verdeckt.
    Bevor er sich ein Glas eingießt – er zögert den rettenden Moment noch ein wenig hinaus –, besieht er sich das dickbauchige Weinglas in seiner Hand.
    Ihm sei das vorher noch nie aufgefallen, sagt er, und vielleicht sei das unwirkliche Licht der Glühbirne daran schuld, aber ihre Form erinnere ihn doch sehr an die obere Hälfte einer Sanduhr, eines Stundenglases. Es fehle nur der untere Teil, wo der Sand zur Ruhe kommt, wenn die Zeit um ist.
    Er beginnt zu trinken. Er leert das halbe Glas in einem Zug. Bald ist er ganz in Erinnerungen versunken und spielt mit tränennassen Augen und tragisch dargebotener Unterlippe auf seiner Vergangenheit wie auf einem lauten Blasinstrument. Er sitzt auf einem schwarzen Ledersofa, das in dem grellen Licht aussieht wie schmelzende Schokolade, und wiegt seinen Oberkörper vor und zurück, in einem Takt, den nur er hören kann.
    Dann verschluckt er sich und wird rot. Sein Oberkörper zieht sich wieder zusammen, und der Rücken wird steif. Schnell sucht er nach seinen Medikamenten. Als der kurze Engpass vorbei ist, als sein Oberkörper das Sekundenkorsett, den Ritt durch das Innere der Sanduhr, überwunden hat, rinnen ihm Tränen übers Gesicht.
    – Ich will noch nicht sterben, jammert er.
    Aber er sagt nicht
sterben
. Um das Wort vor seinem Gebrauch ein wenig abzukühlen, spricht er es wie
stähm
aus.Wolfgang geht zu ihm, verwirrt und fehl am Platz. Längst wünscht er sich fort von hier, fort von diesem Abenteuer zweier unechter Junggesellen. Nach Hause. Und er merkt, dass er langsam wütend wird. Auf diesen wehleidigen Fremden, auf alles. Zur Beruhigung schauen sie sich Familienfotos an.
    – Herzig, sagt Wolfgang.
    Das verdutzte Gesicht eines Kindes, viel zu nahe, als hätte es sich selbst fotografiert.
Funzoniert nicht. Papa helfen
. Die Fotos helfen ein wenig und außerdem –

    – Reden, reden, reden. Die ganze Nacht lang. Er hat mir damals immer alles lang und breit erzählt. Das war ihm aus irgendeinem Grund sehr wichtig. Und ich hab mir wirklich gedacht, mein Gott, wo bin ich da hineingeschlittert. Ich sollte damit endlich Schluss machen und … und … Außerdem hat er mich andauernd geweckt mit seinem Auf-und-ab-Gehen, nächtelang, mein Gott … Das hat mich manchmal wirklich genervt. Ich meine, da arbeitet man den ganzen Tag und kommt dann nicht einmal zum Schlafen. Da hätte ich auch gleich zuhause bei meiner Frau bleiben können, hab ich mir gesagt. Was zum Teufel machst du hier? Und ich glaube, das war letztendlich auch der Grund, warum ich nach wenigen Wochen wieder zurückgegangen bin.
    – Ich leide auch an Schlafstörungen.
    – Ehrlich? Interessant.
    – Ja.
    – Aber ich bin trotzdem immer aufgestanden, ich meine … So ist es ja nicht, dass ich einfach liegen geblieben wäre, ich meine, was ist das für ein Freund, der einfachweiterschläft, wenn es einem anderen dreckig geht? Nein, nein, nein, wir haben immer über alles geredet, und er hat mir gesagt, dass er zum Beispiel sein Haus gesehen hat, wie es in Flammen aufgeht, und dann wieder war alles nur eine Miniatur von dem Haus an einem Strand, aus Sand gebaut, und so weiter.

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