Die Frequenzen
wieder. Die Eltern lachten über den sonderbaren Wunsch ihres Sohnes und erzählten ihm, dass man aus Kunstwerken nicht trinkt. Man stellte sie aufs Klavier neben all die anderen künstlerischen Ausdrucksformen des Kindes und führte sie Besuchern vor, die sich dann höflich nach offensichtlichen Kleinigkeiten erkundigten, wie etwa dem verwendeten Material (Ton) oder der zugrunde liegenden Idee (Trinktasse).
Sein Vater wollte, dass er und seine Schwester vielsprachig waren, also schickte er den achtzehnjährigen Walter, der gerade die Matura mühevoll hinter sich gebracht hatte, für ein Jahr nach Paris, wo er Französisch lernen sollte. Englisch hatte er von seiner Mutter gelernt, die viele Jahre in Amerika gelebt hatte.
Er blieb das volle Jahr brav in Paris, traf ein paar ältere Künstler, die seine Mutter noch
von früher
(begleitet von der Geste eines rückwärts laufenden Karateschlags, der am Ohr in ein Winken übergeht, als wollte man sagen:
Du bist mir vielleicht einer
…) kannten und die sich sachlich und respektvoll über die Arbeit seines Vaters erkundigten. Seine Unschuld verlor er an Ben, einen jungen Studenten, der das japanische Undergroundkino verehrte. Walter hatte bis zu diesem Zeitpunkt nicht gewusst, dass es etwas so Hinreißendes geben konnte wie einen jungen Franzosen, der den Namen eines japanischen Meisterregisseurs wie Shinya Tsukamoto oder Hiroshi Teshigahara auszusprechen versuchte. Er wohnte zeitweise ganz bei Ben, durchforstete mit ihm seine beeindruckende Sammlung von Videokassetten und ließ seine Wohnung in Montmartre verkommen, für die sein Vater weiter aus der Ferne einen ungeheuren Mietpreis bezahlte. Aber da Ben ein paar Kaninchen besaß, gegen deren Haare Walter offenbar allergisch war, wohnte er bald wieder allein.
Gegen Ende seines Aufenthalts war ihm die Stadt zuwider geworden. Er hasste den fauligen Sommergeruch der Seine, die Sirenen der Rettungsfahrzeuge, die mit ihrem bedrohlichen Ganztonschritt Gefahr verkünden,
Gefaahr, Gefaaahr
; und wenn er aus irgendeinem Grund durch die Tuilerien oder über die Place de la Concorde gehen musste, kam er sich vor wie ein falsch proportionierter Mensch auf einem Kupferstich. Das Einzige, was er wahrscheinlich vermissen würde, waren die weißen, verzauberten Sessel im Jardin du Luxembourg, die aus einem anderen Jahrhundert zu stammen schienen, obwohl sie natürlich ganz normale Outdoor-Möbel waren. Sehr oft stellte er sich vor, dass er ein Gespenst verscheuchen musste, wenn er sichhinsetzen wollte. Dann wieder sah er die vielen Touristen und dachte daran, dass sie die Gespenster waren, die durch Materie hindurchgehen konnten und nirgends Halt fanden auf der Welt.
Er war froh, als er endlich abreiste. Im Flugzeug schlief er ein und sah ein verregnetes Fußballfeld, auf dem eine kleine Jacht gestrandet war.
Er verbrachte die ersten Weihnachten wieder zuhause, bei seiner Familie, und wunderte sich, wie er es überhaupt so lange in Frankreich ausgehalten hatte. Ben kam ihm manchmal noch in den Sinn und er schrieb ihm lange Briefe, die allerdings unbeantwortet blieben. Er ertappte sich dabei, wie er im letzten Brief gleich sieben Wörter falsch schrieb und sich bei den Accents vertat. Schon nach ein paar Monaten waren seine Französischkenntnisse auf das Allernötigste zusammengeschrumpft.
Sein Vater verschaffte ihm ein unbezahltes Praktikum als Journalist bei einer großen Tageszeitung. Walter war dort sehr unglücklich. Am meisten kämpfte er mit der vorgeschriebenen Mindestlänge der Artikel. Seinem Gefühl nach hatte er alles Erwähnenswerte bereits in drei oder vier Sätzen gesagt. Dann wies ihn sein Vorgesetzter darauf hin, dass er die Hauptsache, etwa den Namen der Oper oder die Art des zu erwartenden Staatsbesuchs, gar nicht erwähnt hatte und dass obendrein alle Namen falsch geschrieben waren. Walter ließ die Kritik über sich ergehen. Er kniff dabei die Augen zusammen, wie Piloten, die scharfem Gegenwind ausgesetzt sind.
Um sich versöhnlich zu zeigen, fragte der Redakteur, ein Freund seines Vaters, Walter hinterher immer nach Paris. Er war noch nie dort gewesen und Walter gab bereitwillig Auskunft. Ihm fiel auf, dass er sich noch recht gut an alle Straßennamen erinnern konnte. Doch wennder Redakteur etwas über das Flair oder die Gerüche, die Cafés, in denen angeblich heiß über unbeantwortbare Fragen diskutiert wurde, oder die spezielle Vibration des Lichts wissen wollte, erfand Walter einfach irgendwas. Der
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